Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24
Die Führer und die Geführten
[ 1 ] Wer ohne Voreingenommenheit die Ereignisse im heutigen öffentlichen Leben Mitteleuropas beobachtet, dem wird nicht entgehen können, wie die breiten Massen des Volkes in blindem Autoritätsglauben zu führenden Persönlichkeiten aufsehen, wie sie stets von neuem von diesen Persönlichkeiten irgend etwas erhoffen, auch wenn diese Hoffnungen in früheren Fällen sich als unbegründet erwiesen haben. - Diese Erscheinung erweist sich in einem so hohen Maße als charakteristisch für unsere Zeit, daß mit ihr rechnen muß, wer mit seinen Ideen in der Wirklichkeit stehen will. Sie bezeugt, daß die Massenstimmung darauf eingestellt ist, weniger auf die Ideen selbst hinzusehen, welche in den Bereich des öffentlichen Lebens getragen werden, als auf die Personen, von denen sie kommen.
[ 2 ] Vorläufig wenden sich die Menschen, welche geführt sein wollen, noch an diejenigen, welche vor dem Zusammenbruche aus diesem oder jenem Grunde einen autoritativen Einfluß gehabt haben. Man hört aufmerksam darauf hin, was Graf Bernstorff zu sagen hat über die maßgebenden Tatsachen, die den Eintritt Amerikas in den Krieg bewirkt haben. Man tut dies, weil man glaubt, daß man auf ihn bei einer Neugestaltung der Dinge zählen könne. Was aber hat Graf Bernstorff aus seinen Erfahrungen zu sagen? Im Grunde etwas durchaus Negatives. Amerika wäre vom Eingreifen in den Krieg abgehalten worden, wenn Deutschland den uneingeschränkten Unterseebootkrieg nicht geführt hätte. Diese Meinung kann richtig sein. Fruchtbar für die Gegenwart kann sie aber nicht sein. Denn was in dieser Art geschehen ist, was getan worden ist, kann eben nicht mehr geändert werden. Getan aber sollte wenigstens jetzt werden, was in der Zeit des schreckensvollen Krieges nicht getan worden ist; den öffentlichen Angelegenheiten aus Ideen heraus eine zielvolle Richtung zu geben, das ist unterlassen worden; das sollte jetzt getan werden. Von Amerika aus kamen die vierzehn Wilsonschen Schein-Ideen. Wer mit den wirklichen Tatsachen rechnen kann, mußte wissen, daß aus diesen Schein-Ideen sich eine Neugestaltung der in die Zerstörung treibenden Zivilisation nicht ergeben könne. Die konnte nur erhofft werden, wenn aus den Reihen der führenden Persönlichkeiten den ScheinIdeen wirkliche entgegengestellt wurden. Es wurde damals versucht, solchen führenden Persönlichkeiten in Mitteleuropa diejenigen Ideen nahezubringen, die jetzt in der Bewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus leben. Bei der Einstellung der Massen auf die Autorität der führenden Persönlichkeiten hätte es damals, als die Kriegsereignisse noch unentschieden waren, viel bedeuten können, wenn auch nur wenige den Willen zur Prüfung dieser Ideen gehabt hätten und dazu den Mut, im Sinne des Prüfungsergebnisses sich zu verhalten. Haben doch die Schein-Ideen Wilsons die breitesten Kreise von Menschen wie eine neue Offenbarung ergriffen.
[ 3 ] Der Gang der Ereignisse, die immer mehr der Auflösung entgegentreiben, macht es leicht, pessimistische Stimmungen zu rechtfertigen. Man sollte aber doch auch das Gute in der hier gekennzeichneten Tatsache, der Einstellung der Massen auf führende Persönlichkeiten, sehen. Vorläufig nimmt diese Einstellung noch eine falsche Richtung an. Sie wendet sich nach den alten Führern. Aber es kann nicht ausbleiben, daß eines Tages den Geführten klar wird, die Leute mit den alten Ideen, die nicht umlernen wollen, führen in den weiteren Niedergang. Dann wird die Zeit sein für die Leute mit den neuen Ideen. Aber es wird alles, was geschehen sollte, davon abhängen, daß diese Leute in einer genügend großen Anzahl vorhanden sind. Dahin muß gearbeitet werden. Die Möglichkeit muß erstrebt werden, daß das Vertrauen, das sich heute noch in den ausgetretenen Bahnen zu den alten Führern hinbewegt, sich den Trägern der neuen Ideen zuwende.
[ 4 ] Es wird nichts fruchten, wenn man heute noch so oft wiederholt, Amerika wäre nicht in den Krieg eingetreten, wenn Deutschland sich nicht zu dem uneingeschränkten Unterseebootkrieg entschlossen hätte. Es wird dieses Geständnis keinen erheblichen Eindruck in Amerika machen. Denn dort glaubt man, in Mitteleuropa wird auch künftig nur das Machtprinzip wirken, wie es in dem Entschluß gewirkt hat, der einen so tiefen Eindruck gemacht hat. Während des Krieges fürchtete man in Amerika das monarchistische Ausleben des Machtprinzips. Jetzt fürchtet man das bolschewistisch geartete. Von jener Furcht hat man nicht verstanden, Amerika zu heilen. Man sollte nun doch jetzt sich energisch aufraffen, der Welt zu zeigen, daß in Mitteleuropa eine Ideenrichtung leben kann, die in der bolschewis tisch gefärbten Denkweise nur eine Fortsetzung des alten Machtwesens sieht, und daß diese Ideenrichtung mit dem neuen Machtprinzip nichts zu tun haben will. Solange man in der Welt nichts derartiges vernimmt, wird man die Meinung nicht aufgeben, man müsse Mitteleuropa so behandeln, daß es völlig ohnmächtig werde.
[ 5 ] Während des Krieges konnten die führenden Persönlichkeiten sich nicht zu Ideen entschließen. Daher war es nicht möglich, den Ereignissen eine Richtung zu geben, die von der völligen Niederlage weggeführt hätte. Ideenmangel jetzt, nach der Niederlage, müßte die Tatsachen zum völligen Niedergange hinleiten. Nichts könnte es nützen, wenn aus der Flucht vor den Ideen heraus die leitenden Kreise sich abfänden mit der Oberherrschaft der Westmächte. Denn wenn dieses Abfinden ohne die Ideenarbeit erfolgte, dann hätte es zu seinem Schatten stets die ideenlose revolutionäre Machtpolitik der Massen. Die Welt müßte einem Zustand entgegengehen, in dem das regiert, was sich ergibt aus den gedankenlosen Instinkten und der Furcht vor diesen. Man sieht diesen Zustand bereits sehr deutlich heraufziehen. Man sollte die Augen vor der unermeßlichen Gefahr nicht verschließen, die in ihm liegt. Wird ihm nicht entgegengewirkt, so könnte nur der völlige Zusammenbruch der Zivilisation erfolgen. Pessimistische Stimmungen sind gerechtfertigt, solange man ihnen nicht den Willen entgegensetzen kann. Nicht von dieser oder jener «glücklichen Wendung» darf in den heutigen Verhältnissen etwas gehofft werden; allein auf den Willen, der aus den Ideen befruchtet ist, darf gebaut werden.
The Leaders and the Led
[ 1 ] Those who observe events in the public life of Central Europe today without bias will not fail to notice how the broad masses of the people look up to leading personalities in blind faith in authority, how they always hope for something anew from these personalities, even if these hopes have proved to be unfounded in earlier cases. - This phenomenon proves to be so characteristic of our time that anyone who wants to stand with his ideas in reality must reckon with it. It testifies to the fact that mass sentiment is less focused on the ideas themselves, which are brought into the realm of public life, than on the people from whom they come.
[ 2 ] For the time being, people who want to be led still turn to those who, for one reason or another, had an authoritative influence before the collapse. They listen carefully to what Count Bernstorff has to say about the decisive facts that brought about America's entry into the war. One does this because one believes that one can count on him to reorganize things. But what does Count Bernstorff have to say from his experiences? Basically something quite negative. America would have been deterred from intervening in the war if Germany had not waged unrestricted submarine warfare. This opinion may be correct. But it cannot be fruitful for the present. For what has happened in this way, what has been done, can no longer be changed. But what was not done in the time of the terrible war should at least be done now; to give public affairs a purposeful direction out of ideas, that was omitted; that should be done now. From America came the fourteen Wilsonian sham ideas. Anyone who can reckon with the real facts must have known that these sham ideas could not lead to a reorganization of civilization, which was drifting towards destruction. This could only be hoped for if real ideas were put forward from the ranks of the leading personalities in opposition to the sham ideas. At that time, attempts were made to introduce such leading personalities in Central Europe to the ideas that are now alive in the movement for the threefolding of the social organism. Given the attitude of the masses towards the authority of the leading personalities, it could have meant a great deal at that time, when the war events were still undecided, if only a few had had the will to test these ideas and the courage to act in accordance with the results of the test. After all, Wilson's bogus ideas gripped the widest circles of people like a new revelation.
[ 3 ] The course of events, which are drifting ever closer to dissolution, makes it easy to justify pessimistic moods. However, one should also see the good in the fact described here, the attitude of the masses towards leading personalities. For the time being, this attitude is still going in the wrong direction. It is turning towards the old leaders. But it cannot fail to happen that one day the leaders will realize that the people with the old ideas, who do not want to change, will lead to further decline. Then it will be time for the people with the new ideas. But everything that should happen will depend on these people being present in sufficient numbers. This must be worked towards. The possibility must be sought that the trust that today still moves in the well-trodden paths towards the old leaders will turn towards the bearers of the new ideas.
[ 4 ] It will be of no avail to repeat so often today that America would not have entered the war if Germany had not decided on unrestricted submarine warfare. This confession will not make a significant impression in America. For there it is believed that in Central Europe only the principle of power will continue to operate in the future, as it did in the decision that made such a deep impression. During the war, people in America feared the monarchist exercise of the principle of power. Now they fear the Bolshevik one. They did not know how to cure America of that fear. It is now time to make an energetic effort to show the world that a school of thought can live in Central Europe which sees in the Bolshevik way of thinking only a continuation of the old system of power, and that this school of thought wants nothing to do with the new principle of power. As long as nothing of this kind is heard in the world, the opinion will not be abandoned that Central Europe must be treated in such a way that it becomes completely impotent.
[ 5 ] During the war, the leading personalities could not decide on ideas. Therefore, it was not possible to give events a direction that would have led away from total defeat. A lack of ideas now, after the defeat, would have to lead the facts towards total defeat. It could be of no use if the leading circles, fleeing from ideas, came to terms with the supremacy of the Western powers. For if this resignation took place without the work of ideas, it would always have as its shadow the unimaginative revolutionary power politics of the masses. The world would have to move towards a state in which that which results from thoughtless instincts and the fear of them would rule. We can already see this state of affairs approaching very clearly. We should not close our eyes to the immeasurable danger that lies within it. If it is not counteracted, it could only lead to the complete collapse of civilization. Pessimistic moods are justified as long as they cannot be countered with the will. No hope can be placed in this or that "happy turn of events" in today's circumstances; only the will, which is fertilized by ideas, can be relied upon.