Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24
Ideen und Brot
[ 1 ] Kann die Verbreitung einer Idee, wie sie die von der Dreigliederung des sozialen Organismus ist, heute gegenüber den wirtschaftlichen Nöten ein fruchtbares öffentliches Wollen bewirken? Diese Frage wird von vielen gestellt. Und nur allzu oft ist die Antwort: Zunächst hat man doch um das bloße Brot zu kämpfen; dann, wenn man zu diesem gekommen sein wird, kann man sich wieder Ideen zuwenden.
[ 2 ] Gerade gegen diese Anschauung mußte in dieser Zeitschrift immer wieder gesprochen werden. Daß uns das Brot fehlt, daran trägt doch wahrlich nur die Schuld, daß die Ideen, durch die wir es bisher uns zu erarbeiten versuchten, sich als unfähig erwiesen haben, es uns weiter zu verschaffen. Es ist doch nicht das Brot, das sich uns entzogen hat und an das man appellieren kann; es ist die Arbeit, die man herbeirufen muß, um das Brot zutage zu bringen. Die Arbeit aber kann ohne die Idee, die ihr Richtung und Ziel gibt, nicht in fruchtbarer Art geleistet werden. Man möchte sich eine einfache Tatsache nicht eingestehen: Die bisher führenden Persönlichkeiten haben der Arbeit aus Ideen heraus Richtungen und Ziele gegeben, zu denen die Arbeitenden das Vertrauen verloren haben. Dadurch sind wir zusammengebrochen. Wenn wir zu diesem Geständnis nicht kommen wollen, wird der Niedergang weiter wüsten. Macht man sich dieses Geständnis rückhaltlos, dann muß man einsehen, daß eine Rettung vor dem Niedergange nur in dem Erfassen neuer Ideen liegen kann.
[ 3 ] Heute liegen die Dinge so, daß man doch wahrlich keinen besonderen Grund hat, sich stark dafür zu interessieren, ob Erzberger dem Helfferich oder der Helfferich dem Erzberger die schlimmeren Dinge an den Kopf zu werfen hat. Die Hauptsache ist doch, daß alle beide aus Verhähnissen heraus erwachsen sind und im Sinne solcher Verhältnisse weiter denken, die den Zusammenbruch unseres öffentlichen Lebens herbeigeführt haben. Daß die Ideen, die in allen Köpfen Erzbergerischer und Helfferichscher Art spuken, durch andere abgelöst werden, darauf kommt es an. Heliferich hat den Kampfruf erhoben: Erzberger ist ein Schädling des öffentlichen deutschen Lebens; er muß aus demselben entfernt werden. Den Inhalt dieses Rufes zu bezweifeln, ist kein Grund. Seine Vertretung durch die Leute mit Helfferichschen Gedanken führt aber zu nichts. Weiter kommen wir erst, wenn wir Ideen von einer sozialen Ordnung pflegen können, die alle Helfferichsche und Erzbergerische Politik aus der Welt schaffen. Ob der eine oder der andere schuldiger ist, hat gewiß ein bedeutendes juristisches Interesse; daß die Ideen beider an dem Niedergange des öffentlichen Lebens schuld sind, darüber muß eine neue Einsicht keinen Zweifel lassen.
[ 4 ] Was verhindert das Aufkeimen solch einer neuen Einsicht? Es könnte doch unschwer einleuchten dem, der aus den Tatsachen lernen wollte. Aber wie viele haben aus den Tatsachen des Krieges gelernt; wie viele sind geneigt, aus denen zu lernen, die sich zunächst nach dem Waffenkriege ergeben haben? Die «echt» marxistische und auch die abgeschwächt marxistische sozialistische Lehre sind tief durchdrungen, daß in der Wirtschaftsgrundlage der sozialen Ordnung das Heilmittel für einen gedeihlichen Fortgang in der Zukunft gesucht werden müsse. In dem weltgeschichtlichen Augenblicke, in dem die Träger des Sozialismus vorrücken in die Stellen, die früher von Leuten eingenommen worden sind, welche sie bekämpfen, wird an der Seite von Sozialisten die Leitung eines wesentlichen Teiles des Wirtschaftslebens von - Erzberger besorgt.
[ 5 ] Über diese Dinge wird man nicht hinauskommen, solange man nicht das Vertrauen zu Ideen gewinnt, die sich nicht mehr ihre praktische Durchführung von den alten Routiniers besorgen lassen wollen, sondern die geeignet sind, selbst an diese Durchführung heranzutreten. Den Willen zur Lebenspraxis, die sich aus neuen Ideen ergibt, ihn möchten diejenigen pflegen, die von der Dreigliederung des sozialen Organismus reden. Sie fragt man oft: Ja, wie denkt ihr euch denn dieses oder jenes durchgeführt? Sie müssen antworten: Zur Durchführung ist vorerst notwendig, daß die Idee der Dreigliederung selbst als praktische Grundlage erfaßt und in ihreni Sinne gehandelt werde. Dann weisen sie darauf hin, welche Gestalt diese oder jene Einrichtung gewinnen müsse, wenn die Dreigliederung im öffentlichen Leben wirksam werden solle. Wenn sie so reden, dann rufen diejenigen, die nicht selbst nach dem Vorgebrachten urteilen mögen, die alten «Praktiker» auf irgendeinem Gebiete zu Hilfe. Diese haben «bisher keine Zeit gehabt», sich mit den neuen Ideen zu beschäftigen. Sie hören sich im Fluge an, was denn die Träger dieser Ideen eigentlich wollen, verstehen ganz selbstverstandlich aus einer herausgerissenen Einzelheit nicht das allergeringste und fällen das Urteil: - «Utopie», «gutgemeinter Idealismus», aber für die Praxis wesenlos.
[ 6 ] Man muß diesen Tatsachen ganz vorurteilslos ins Auge schauen, wenn man die Grundbedingungen erkennen will, unter denen eine Idee wie die von der Dreigliederung des sozialen Organismus vorwärtskommen kann, und wenn man die Hindernisse werten will, welchen diese Idee begegnet. Die Träger der Dreigliederungsidee mögen noch so praktische Vorschläge im einzelnen machen: man wird sie bekämpfen auf der Seite derjenigen, die auf diese Idee selbst nicht eingehen. Deshalb ist gegenwärtig notwendig, daß das Verständnis für diese Idee moglichst verbrietet werde. Alle speziellen Einrichtungen, welche von Trägern dieser Idee getroffen werden, müssen dieser Verbreitung der Idee zunächst dienen.
[ 7 ] Die wirkliche Erkenntnis fruchtbarer neuer Ideen kann allein die Wege finden lassen, auf denen wir wieder zu Brot kommen. Die Flucht vor diesen Ideen wird uns vollig brotlos machen. Helfen kann nur die Einsicht, daß dem Brotmangel der Ideenmangel vorangegangen ist, daß der letztere die Ursache des ersteren ist. Der Weg, den wir gemacht haben, ist: Ideenmangel, Brotlosigkeit. Der Weg den wir gehen müssen, ist: in den Ideen den Willen zur Arbeitsgestaltung finden. Auf diesem Wege wird - das Brot erzeugt werden.
Ideas and Bread
[ 1 ] Can the dissemination of an idea such as the threefold nature of the social organism bring about a fruitful public will in the face of economic hardship today? This question is asked by many. And all too often the answer is: first you have to fight for the bare bread; then, when you have achieved this, you can turn to ideas again.
[ 2 ] It is precisely against this view that this journal has had to speak again and again. The fact that we lack bread is really only due to the fact that the ideas through which we have tried to acquire it up to now have proved incapable of providing it for us. It is not the bread that has eluded us and to which we can appeal; it is the work that must be summoned in order to bring the bread to light. But the work cannot be done fruitfully without the idea that gives it direction and purpose. One does not want to admit a simple fact: The leading personalities up to now have given the work directions and goals based on ideas in which the workers have lost confidence. As a result, we have collapsed. If we do not want to admit this, the decline will continue. If we make this admission without reserve, then we must realize that the only way to save ourselves from decline is to grasp new ideas.
[ 3 ] Today, things are such that there is really no particular reason to take a keen interest in whether Erzberger has the worse things to say to Helfferich or Helfferich to Erzberger. The main thing is that both have grown out of circumstances and continue to think in terms of those circumstances that have brought about the collapse of our public life. It is important that the ideas that haunt the minds of the Erzberg and Helfferichs are replaced by others. Heliferich has raised the battle cry: Erzberger is a pest of German public life; he must be removed from it. There is no reason to doubt the content of this call. But its representation by people with Helfferich's ideas leads nowhere. We will only get further if we can cultivate ideas of a social order that will do away with all Helfferichian and Erzbergerian politics. Whether one or the other is more guilty is certainly of great legal interest; a new insight must leave no doubt that the ideas of both are to blame for the decline of public life.
[ 4 ] What prevents the germination of such a new insight? It could easily be obvious to anyone who wanted to learn from the facts. But how many have learned from the facts of war; how many are inclined to learn from those that first emerged after the war of arms? The "genuine" Marxist and also the weakened Marxist socialist doctrine are deeply imbued with the idea that the remedy for a prosperous future must be sought in the economic basis of the social order. At the moment in world history when the bearers of socialism are advancing into the places formerly occupied by people who oppose them, the management of a substantial part of economic life is being taken care of by Erzberger alongside socialists.
[ 5 ] We will not get beyond these things as long as we do not gain confidence in ideas that no longer want to have their practical implementation taken care of by the old routiniers, but that are capable of approaching this implementation themselves. Those who speak of the threefold nature of the social organism want to cultivate the will to practice life that results from new ideas. They are often asked: Yes, how do you think this or that should be carried out? They must answer: First of all, it is necessary that the idea of the threefold structure itself be grasped as a practical basis and acted upon. Then they point out what form this or that institution must take if threefolding is to become effective in public life. When they speak in this way, those who do not want to judge for themselves according to what they have said call on the old "practitioners" in some field or other for help. They have "not had time" to deal with the new ideas. They listen on the fly to what the bearers of these ideas actually want, quite naturally do not understand the slightest thing from a detail that has been torn out and pass judgment: - "utopia", "well-intentioned idealism", but insubstantial for practice.
[ 6 ] We must look these facts in the eye without prejudice if we want to recognize the basic conditions under which an idea such as that of the threefolding of the social organism can advance, and if we want to evaluate the obstacles that this idea encounters. No matter how practical the individual proposals of the proponents of the idea of threefolding may be, they will be fought on the side of those who do not respond to this idea themselves. It is therefore necessary at the present time that the understanding of this idea be spread as widely as possible. All special measures taken by the promoters of this idea must first of all serve to spread the idea.
[ 7 ] The real realization of fruitful new ideas alone can enable us to find the ways in which we can find bread again. Fleeing from these ideas will leave us completely breadless. The only thing that can help is the realization that the lack of bread was preceded by the lack of ideas, that the latter is the cause of the former. The path we have taken is: Lack of ideas, lack of bread. The path we must take is to find in ideas the will to shape work. In this way - bread will be produced.