Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24
Nachträgliche Bemerkungen zum «Matin»-Interview
Dreigliederung, 3. Jg., Nr. 15 vom 12. Oktober 1921 / Das Goetheanum, 1 Jg.,. Nr. 9, 16. Oktober 1921
[ 1 ] Es schien mir unmöglich, die während eines Besuches des mir befreundeten Dr. Jules Sauerwein gestellten Fragen nicht zu beantworten. Denn erstens halte ich den gegenwärtigen Zeitpunkt für einen solchen, in dem jeder sprechen muß, der von der Wahrheit des Krieges etwas weiß. Ich hätte unter den gegebenen Verhältnissen Schweigen für Pflichtverletzung halten müssen. Was ich gesagt habe, konnte ich ganz unabhängig von den Memoiren des Herrn von Moltke sagen. Ich habe das alles von Herrn von Moltke im November 1914 und später selbst - sogar oftmals - gehört und niemals eine Verpflichtung des Verschweigens auferlegt erhalten. Es war nur selbstverständlich, darüber nicht zu einer ungeeigneten Zeit zu sprechen.
[ 2 ] Zweitens kommt noch etwas in Betracht. Ich habe Herrn von Moltke gekannt und durch Jahre hindurch das Vornehm-Lautere dieser Persönlichkeit schätzen gelernt, über deren Lippen gewiß niemals eine subjektive Unwahrheit gekommen ist. Im Juli 1914 war er in eine tragische Situation hineingestellt. Er kannte das Furchtbare, für das zu entscheiden war, und seine militärische Pflicht gebot ihm, allein zu entscheiden. Nun darf ich vielleicht dazu bemerken, daß mir bei einem andern kurz vorher erfolgten Besuch Dr. Jules Sauerwein erzählte, daß jetzt von gewissen Seiten Nachrichten verbreitet werden, von Moltke sei in Geistesverwirrung gestorben. Er fragte mich, was denn an diesen Dingen und ihrem Zusammenhang mit dem Kriege wahr sei. Ich fühlte mich auch gegenüber diesen empörenden unwahren Ausstreuungen verpflichtet, nicht zu schweigen. (Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß Frau von Moltke nichts wußte von einer Unterredung mit Dr. Sauerwein.)
[ 3 ] Es ist nun einmal meine Ansicht, daß die Erörterungen über die «Schuld» am Kriege in einer ganz falschen Bahn sich bewegen. Man kann so gar nicht von «Schuld» sprechen, wie man es tut. Tragik liegt vor. Und durch eine tragische Situation ist der Krieg entstanden. Das zeigt am besten, wie ich glauben muß, was ich durch Herrn von Moltke über die nächsten Kriegsveranlassungen gehört habe. Auf das unsinnige Gerede von von Moltkes «mystischen» Neigungen fühle ich mich nicht veranlaßt einzugehen. Was er in bezug auf den Krieg getan hat, hielt er aus seiner militärischen Pflicht heraus für eine Notwendigkeit. Und ich meine, daß, was er gesagt hat, geeignet ist, die Diskussion über die «Schuld» am Kriege auf eine andere Grundlage zu stellen, als diejenige ist, auf der sie heute in der Welt steht.
Rudolf Steiner
Subsequent comments on the “Matin” Interview
Dreigliederung, Vol. 3, No. 15, October 12, 1921 / Das Goetheanum, Vol. 1,. No. 9, October 16, 1921
[ 1 ] It seemed impossible not to answer the questions put to me during a visit by my friend Dr. Jules Sauerwein. For, firstly, I consider the present moment to be one in which everyone who knows anything about the truth of the war must speak. Under the circumstances, I should have considered silence to be a breach of duty. What I have said, I could say quite independently of Mr. von Moltke's memoirs. I heard all this from Mr. von Moltke in November 1914 and later myself - even often - and was never under any obligation to remain silent. It was only natural not to talk about it at an inappropriate time.
[ 2 ] Secondly, there is something else to consider. I knew Mr. von Moltke and for years learned to appreciate the nobility of this personality, whose lips certainly never uttered a subjective untruth. In July 1914 he was placed in a tragic situation. He knew the dreadful thing that had to be decided, and his military duty required him to decide alone. Now I may perhaps remark that on another visit shortly before, Dr. Jules Sauerwein told me that news was now being spread from certain quarters that von Moltke had died in mental derangement. He asked me what was true about these things and their connection with the war. I also felt obliged not to remain silent in the face of these outrageous and untrue scatterings. (I need hardly say that Mrs. von Moltke knew nothing of a conversation with Dr. Sauerwein.)
[ 3 ] I believe that the discussions about the "guilt" of the war are on the wrong track. One cannot speak of "guilt" in the way one does. There is tragedy. And the war was caused by a tragic situation. That shows best how I must believe what I have heard from Mr. von Moltke about the next war. I do not feel compelled to go into the nonsensical talk of von Moltke's "mystical" inclinations. What he did with regard to the war he considered a necessity out of his military duty. And I think that what he said is suitable for putting the discussion about the "guilt" of war on a different footing from that on which it stands in the world today.
Rudolf Steiner