Collected Essays on Drama 1889–1900
GA 29
Automated Translation
Magazin für Literatur 1897, Volume 66, 46
62. “The New Woman”
Comedy in four acts by Rudolf Stratz
Performance at the Königliches Schauspielhaus, Berlin
Erna Textor acts as the "new woman" for as long as she can remember, Greek and Latin phrases bubble from her lips and, in order to study chemistry, commercial and exchange law, she has moved to a small university town in southern Germany. She has inherited an aniline factory from her father and not only wants to be able to keep an eye on the chemists who work in her factory, but also to collect the money she earns from aniline production with understanding. She defends the equal rights of men and women with insight and almost feminine eloquence. She demands admission to the lecture halls from a college consisting of pedantic, narrow-minded professors of comedy and is unhappy that the youngest, smartest professor, who even appears in a lieutenant's uniform, is the fiercest opponent of her admission to university studies. She has been betrothed by her father, who is of course dead at the beginning of the play, to a boring man called Matthias Leineweber, just to be unsympathetic enough. None of this concerns us. For we know as soon as the first words have been spoken that Erna will no longer be the "new woman" at the end of the play, but will sink into the arms of the professor in the officer's uniform, who closes the gates of the university to her, as a bride. However, Rudolf Stratz is not allowed to tell us this as soon as the curtain rises. Otherwise there would be no comedy. But he must hint at it. That is what dramatic technique demands. The fact that we see through these hints from the outset is probably due to our naivety. We are so inclined to assume that comedies end with marriages. Why should Rudolf Stratz, of all people, depart from this custom? Between the events that make up the main plot, students drink beer, sing songs, go to the cramming floor and skip classes. In German comedies, the students naturally drink, play truant and cram even more than in reality. This is the result of the cursed idealism in art, which wants to put everything in an ideal light. In the time that Erna Textor doesn't fill with clever speeches and the students don't fill with drinking beer, professors' wives talk stupid things. An eminent private scholar drinks so much wine that he takes an overcoat for a man, and his wife hides his boots so that he can't go to the pub. Also, a young lady with backfish manners, who is a dentist by profession, teaches a daft student about the ideals of life and the benefits of work.
Excellent actors play in the "comedy". Miss Poppe makes the impossible role of Erna almost possible; Mr. Keßler plays the professor in his officer's uniform to perfection. Mr. Vollmer portrays the private scholar and drunkard with such art that we forget the character created by Stratz, and Mrs. Conrad as the dentist cannot be praised enough. The "Lustspiel" is a runaway hit, but because of the excellent performance, once you have gotten into it, you have to see it through to the end.
«DAS NEUE WEIB»
Lustspiel in vier Aufzügen von Rudolf Stratz
Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin
Erna Textor gebärdet sich aktelang als das «neue Weib», griechische und lateinische Sätze sprudeln von ihren Lippen, und, um Chemie, Handels- und Wechselrecht durchaus zu studieren, hat sie sich in eine kleine süddeutsche Universitätsstadt begeben. Sie hat von ihrem Vater eine Anilinfabrik geerbt und will nicht nur den Chemikern, die in ihrer Fabrik beschäftigt sind, auf die Finger schauen können, sondern auch mit Verständnis die Bezüge einheimsen, die ihr aus der Anilinfabrikation zufließen. Sie verteidigt mit Einsicht und fast weibischer Beredsamkeit die Gleichberechtigung von Mann und Weib. Sie verlangt von einem Kollegium, das aus pedantischen, engherzigen Lustspielprofessoren besteht, Einlaß in die Hörsäle und ist unglücklich darüber, daß der jüngste, fescheste Professor, der sogar in Leutnantsuniform auftritt, der heftigste Gegner ihrer Zulassung zu den Universitätsstudien ist. Sie ist von ihrem Vater, der zu Beginn des Stückes natürlich tot ist, mit einem langweiligen Menschen verlobt worden, der, um unsympathisch genug zu sein, Matthias Leineweber heißt. Uns geht das alles nichts an. Denn wir wissen, sobald die ersten Worte gefallen sind, daß Erna am Ende des Stückes nicht mehr das «neue Weib» sein, sondern dem Professor in der Offiziersuniform, der ihr die Pforten der Universität verschließt, als Braut in die Arme sinken wird. Rudolf Stratz darf uns das allerdings nicht gleich beim Aufgehen des Vorhanges sagen. Sonst gäbe es kein Lustspiel. Aber er muß es andeuten. Das verlangt die dramatische Technik. Daß wir diese Andeutungen von vorneherein durchschauen, das wird wohl an unserer Naiv: liegen. Wir sind so geneigt, anzunehmen, daß Lustspiele mit Heiraten schließen. Warum sollte gerade Rudolf Stratz von dieser Lustspielsitte abgehen? Zwischen den Vorgängen, welche die Haupthandlung zusammensetzen, trinken Studenten Bier, singen Lieder, gehen auf den Paukboden und schwänzen Kollegien. In deutschen Lustspielen trinken, schwänzen und pauken die Studenten selbstverständlich noch viel mehr als in Wirklichkeit. Das macht der verfluchte Idealismus in der Kunst, der alle Dinge in ein ideales Licht rücken will. In der Zeit, welche Erna Textor nicht mit klugen Reden und die Studenten nicht mit Biertrinken ausfüllen, schwatzen Professorenfrauen dumme Sachen. Ein grundgelehrter, bedeutender Privatgelehrter trinkt so viel Wein, daß er einen Überrock für einen Menschen hält, und seine Frau versteckt ihm die Stiefel, damit er nicht in die Kneipe gehen kann. Auch unterrichtet eine junge Dame mit Backfischmanieren, die ihrem Berufe nach Zahnärztin ist, einen verbummelten Studenten über die Ideale des Lebens und den Nutzen der Arbeit.
Ausgezeichnete Schauspieler spielen in dem «Lustspiel». Fräulein Poppe macht uns die unmögliche Rolle der Erna fast möglich; Herr Keßler spielt den Professor in der Offiziersuniform vollendet. Herr Vollmer stellt den Privatgelehrten und Trinker mit einer Kunst dar, daß wir die Gestalt, die Stratz geschaffen, vergessen, und Frau Conrad als Zahnärztin kann man gar nicht genug loben. Das «Lustspiel» ist zum Davonlaufen, aber wegen der vorzüglichen Darstellung muß man es, wenn man einmal hineingeraten ist, zu Ende ansehen.