Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24
Staatspolitik und Menschheitspolitik
[ 1 ] Wer heute sich ein politisches Urteil bilden will, der muß von den Ideen und Programmen Abschied nehmen, mit denen man noch vor kurzer Zeit Parteien gebildet und öffentliche Diskussionen geführt hat. Und wo solche Parteien fortbestehen, wo solche Diskussionen fortgeführt werden, da bleiben sie hinter den Ereignissen weit zurück.
[ 2 ] Man darf die mächtige sozialistische Bewegung, welche die moderne Zivilisation erschütterte, nicht in die Begriffe einfangen wollen, mit denen man vor einem Jahrzehnt an sie herantrat. Da dachte man, mit Staatspolitik sie bewältigen zu können. Man gestaltete diese Staatspolitik verschieden, je nachdem man konservativ, liberal oder sozialistisch war, aber man zweifelte niht daran, daß Staatspolitik in irgendeiner Art die öffentlichen Angelegenheiten bewältigen müsse. Doch diese Angelegenheiten zeigen gegenwärtig mit aller Deutlichkeit, daß sie überall der Staatspolitik sich nicht fügen wollen. Und sieht man genauer auf den Gang der Ereignisse hin, so wird man finden können, daß die Anschauungen über den Staat, die man heute geltend machen will, nirgends mit den Gesamtbestrebungen der Menschheit zusammenfallen. Im europäischen Osten wollen Fanatiker einen Staat in der Form Zimmern, die ihnen als Wirtschaftsgemeinschaft vorschwebt. Zwar versichern sie, daß ihr entferntes Ziel die Hinwegräumung jeglichen Staatsgebildes sei. Vorläufig aber wollen sie einen militaristisch organisierten Wirtschaftsstaat gestalten. Er trägt die Keime des Verfalls in sich. Denn in der Menschheit wirkt gegenwärtig ein politisch-demokratischer Trieb, der sich in einem militarisierten Wirtschaftsstaat nicht zur Geltung bringen kann. Die «Diktatur» des Proletariats könnte für kurze Zeit diesen Trieb lähmen; austilgen kann sie ihn nicht. Ebensowenig kann der bloß wirtschaftlich orientierte Staat ein Geistesleben schaffen, das für die Bedürfnisse der Menschheit Befriedigung bringen könnte.
[ 3 ] Das letztere sehen idealistisch veranlagte Menschen ein. Deshalb bemühen sie sich, die religiösen und geistigen Ideen neu zu beleben. Katholiken, Protestanten und freireligiös empfindende Personen kann man auf dem Wege nach diesem Ziele sehen. Aber ihre oft kraftvollen und wohlgemeinten Bestrebungen zeigen sich ohnmächtig. Sie dringen nicht bis in diejenigen Seelentiefen der Menschen, in denen die Kräfte wirken, die Krieg und Frieden bestimmen, oder die haltbare wirtschaftliche Zustände schaffen. In der Schweiz reden amerikanische Yertreter des Geisteslebens, um von ihren Gesichtspunkten aus den Völkerbunds-Ideen Tragkraft zu geben. Der Unbefangene muß zu der Überzeugung kommen: sie werden vergebens reden. Denn ihre Worte werden keinen Zugang finden zu den Herzen derer, bei denen die Instinkte nur nach einer Umgestaltung des Wirtschaftslebens hindrängen.
[ 4 ] In England hat der Bergarbeiterstreik die Gemüter aufgewühlt. Auch wenn es dem Parlament gelingt, augenblicklich seiner Herr zu werden, so wird dies durch Einrichtungen geschehen müssen, mit denen sich in einigen Jahren der Gang der Wirtschaft wird nicht aufrechterhalten lassen. Was in diesem Falle das Parlament getan hat, das zeigt mit voller Klarheit, daß ein Staatsparlament zwar die öffentlichen Angelegenheiten bereden und durch das Bereden in einer vorläufigen Weise ordnen kann, daß es aber doch ohnmächtig ist, das Wirtschaftsleben zu bemeistern.
[ 5 ] Europa hat aufgeatmet, weil es dem Bolschewismus nicht gelungen ist, die Polen zu besiegen. Es würden viele noch befriedigter atmen, wenn es den «Sieg» der einen oder der anderen Macht über das bolschewistische Rußland erlebte. Die so denken, ahnen nicht, daß sie, wenn sie fortfahren, im alten Sinne «staatspolitisch» zu wirken, aus dem untergehenden Bolschewismus in nicht ferner Zeit ein anderes Schreckgebilde aufstehen sehen würden. Ein solches, das ihnen wohl näher wäre als der russische Bolschewismus.
[ 6 ] Die Staatspolitik, die ihr Bereich über das Geistes- und das Wirtschaftsleben ausgedehnt hat, die den Menschen zugleich erziehen und unterrichten und auch seine Wirtschaft besorgen will, hat es dazu gebracht, so zu erziehen, daß das Geistesleben ohnmächtig ist gegenüber der Gestaltung des sozialen Lebens. Sie lebt durch Parlamente und administrative Einrichtungen, die an dem wirklichen Gang des Geisteslebens vorbeireden und vorbeihandeln. Sie führt zuletzt bei den breiten Massen und deren Führern zu einem Staats-Ideal, das einen tyrannischen und noch dazu ungenügenden Wirtschafts-Dilettantismus verkörpern will.
[ 7 ] Warum ist das Geistesleben ohnmächtig? Weil es ohnmächtig werden muß, wenn Staaten die Erziehungs- und Unterrichtsnormen festsetzen. Denn der Geist kann zu der ihm gebührenden Macht nur gelangen, wenn er in voller Freiheit seine eigenen Ziele verfolgen kann. Die Selbstverwaltung des vom Staate emanzipierten Geisteslebens, namentlich seines wichtigsten Gebietes, des Unterrichts- und Erziehungswesens, kann allein den geistigen Impulsen den Zugang zu den Menschenherzen eröffnen. Schulen, die vom Staate und vom Wirtschaftsleben ganz unabhängig sind, werden Menschen aus sich hervorgehen lassen, deren Geisteskraft gestaltend auf Staat und Wirtschaft wirken kann. Man wendet ein: das führt zur Unbildung zurück. Denn wo kein Staats-Schul-Zwang, da werden die meisten Kinder auch nicht in die Schule geschickt. Man sollte vielmehr gerade an die Lösung der Aufgabe gehen: wie bringt man die Kinder ohne Staatszwang in die Schulen hinein?
[ 8 ] Die gleiche Absonderung vom Staate und die Selbstverwaltung wie das Geistesleben fordert das Wirtschaftsleben. Der Staat kann nur über diejenigen Angelegenheiten sich erstrecken, in denen alle mündig gewordenen Menschen als einander gleiche urteilsfähig sind. Der demokratische Parlamentarismus ist sein Lebenselement. Aber dieser Parlamentarismus muß zu seiner organischen Ergänzung ein sich selbst verwaltendes Geistes- und ein ebensolehes Wirtschaftsleben haben. In beiden müssen andere Kräfte walten als diejenigen, die in demokratischen Parlamenten sich entfalten können.
[ 9 ] Die alten Staatsgebilde, die sich das Geistesleben und die Wirtschaft in weitem Umfange einverleibt haben, werden keine Gebilde der Menschengemeinschaft sein, in denen sich die modernen Menschheitsfragen lösen lassen. Die Unruhe der modernen Zivilisation hat ihren Ursprung in dem Herausstreben des Geistes- und Wirtschaftslebens aus diesen Staatsgebilden.
[ 10 ] Im Osten herrscht das Chaos. Im Westen sollten sich genug urteilsfähige Köpfe finden, welche durch die Befreiung des Geistes- und des Wirtschaftslebens den Weg suchen aus der immer mehr um sich greifenden Lähmung der öffentlichen Geisteskräfte. Solange nicht genügend Menschen da sind, die mit solchen Anschauungen Erfolg haben können, wird die moderne Zivilisation in Unruhen erbeben, und die Drohung wird bestehen bleiben, daß aus dem Chaos des Ostens das Weltenchaos sich entwickeln werde.
State Policy and the Politics of Humanity
[ 1 ] Those who want to form a political opinion today must bid farewell to the ideas and programs with which parties were formed and public discussions were held only a short time ago. And where such parties continue to exist, where such discussions continue, they fall far short of events.
[ 2 ] The powerful socialist movement that shook modern civilization should not be captured in the terms with which it was approached a decade ago. At that time, it was thought that it could be overcome with state policy. This state policy was shaped differently depending on whether one was conservative, liberal or socialist, but there was no doubt that state policy had to deal with public affairs in some way. But at present these affairs clearly show that everywhere they do not want to submit to state policy. And if one takes a closer look at the course of events, one will find that the views on the state that people want to assert today do not coincide anywhere with the overall aspirations of mankind. In the European East, fanatics want to carpenter a state in the form they have in mind as an economic community. They assure us that their distant goal is the abolition of any kind of state structure. For the time being, however, they want to create a militaristically organized economic state. It carries the seeds of decay. For there is currently a political-democratic drive at work in humanity that cannot come to the fore in a militarized economic state. The "dictatorship" of the proletariat could paralyze this drive for a short time; it cannot eradicate it. Nor can the purely economically oriented state create a spiritual life that could satisfy the needs of humanity.
[ 3 ] The latter is recognized by idealistically inclined people. That is why they strive to revive religious and spiritual ideas. Catholics, Protestants and people with free religious sentiments can be seen on the way to this goal. But their often powerful and well-intentioned efforts are powerless. They do not penetrate into the depths of people's souls, where the forces that determine war and peace or that create sustainable economic conditions are at work. In Switzerland, American representatives of intellectual life are speaking in order to lend support to the ideas of the League of Nations from their point of view. The unbiased person must come to the conclusion that they will speak in vain. For their words will find no access to the hearts of those whose instincts urge only a reorganization of economic life.
[ 4 ] In England, the miners' strike has stirred up emotions. Even if Parliament succeeds in getting it under control now, it will have to do so through institutions that will not be able to keep the economy going in a few years' time. What the parliament has done in this case shows with complete clarity that a state parliament can indeed discuss public affairs and, through discussion, order them in a provisional manner, but that it is nevertheless powerless to master economic life.
[ 5 ] Europe breathed a sigh of relief because Bolshevism did not succeed in defeating the Poles. Many would breathe a sigh of relief if they were to experience the "victory" of one power or another over Bolshevik Russia. Those who think this way have no idea that, if they continue to work in the old sense of "state politics", they will see another terrible entity rise up out of the declining Bolshevism in the not too distant future. One that would probably be closer to them than Russian Bolshevism.
[ 6 ] State policy, which has extended its sphere over the intellectual and the economic life, which wants to educate and instruct man at the same time and also take care of his economy, has brought it to educate in such a way that the intellectual life is powerless over the organization of social life. It lives through parliaments and administrative institutions which talk and act without regard to the real course of intellectual life. In the end, it leads the broad masses and their leaders to an ideal of the state that seeks to embody a tyrannical and, what is more, inadequate economic dilettantism.
[ 7 ] Why is spiritual life powerless? Because it must become powerless when states set the norms of education and teaching. For the spirit can only attain the power it deserves if it can pursue its own goals in complete freedom. The self-administration of intellectual life emancipated from the state, especially in its most important area, teaching and education, is the only way to open up access to the hearts of men for intellectual impulses. Schools that are completely independent of the state and economic life will produce people whose intellectual power can have a formative effect on the state and the economy. It is argued that this leads back to uneducation. For where there is no state-school compulsion, most children are not sent to school. Instead, we should be looking at the solution to the problem: how to get children into schools without state coercion?
[ 8 ] Economic life demands the same separation from the state and self-administration as intellectual life. The state can extend itself only over those matters in which all men who have come of age are capable of judgment as equals. Democratic parliamentarianism is its vital element. But this parliamentarism must be organically supplemented by a self-governing intellectual and an equally self-governing economic life. Both must be governed by forces other than those that can develop in democratic parliaments.
[ 9 ] The old state formations, which have incorporated intellectual life and the economy to a large extent, will not be entities of the human community in which the modern questions of humanity can be solved. The unrest of modern civilization has its origin in the striving of intellectual and economic life out of these state formations.
[ 10 ] The East is in chaos. In the West, there should be enough discerning minds who, through the liberation of intellectual and economic life, seek a way out of the increasingly widespread paralysis of public intellectual forces. As long as there are not enough people who can succeed with such views, modern civilization will shake in unrest, and the threat will remain that world chaos will develop from the chaos of the East.