Collected Essays on Drama 1889–1900
GA 29
Automated Translation
Magazin für Litertur 1899, Volume 68, 48
121. “The Trial Candidate”
Play in four acts by Max Dreyer
Performance at the Deutsches Theater, Berlin
Dr. Fritz Heitmann, the probationer, is assigned to teach science in the top class of a grammar school. He has made Darwinism the basis of his scientific way of thinking and also wants to educate his pupils in the spirit of this truth. He is also an honest man who hates untruth, even when it appears in the often popular form of white lies. Cowardice towards those who are higher or more powerful than us in the social body is the origin of this vice, he says to his pupil, who wants to have learned its justification in the religion lesson. It becomes difficult for the man to stay on the ground of truth. He arouses the wrath of Dr. v. Korff. The latter, a relative of the minister and a supporter of the "conviction" that religion should not be taken away from the people, prompts the principal of the school to bring the weed-sowing teacher to heel. He is in a difficult position. He is supposed to support his family, which his father, a wronged landowner, can no longer keep afloat. He also has a bride, whose hand he can only receive from her parents if he can offer his job as a teacher as an equivalent. He allows himself to be carried away by the promise to recant the "false teachings" he has presented to his pupils in a trial lesson and instead to plant genuine Christian revelatory truths in their souls. For this he was to be found worthy of the office of youth educator. But when he sees his students gathered around him and looks into their kind eyes, he realizes that they demand the truth and nothing else from him, and he confirms the points of view he represents before the ears of his superiors. The grateful students reward him with a serenade; the bride is lost to him. But he has remained an upright man.
This drama has been criticized for its "tendency". Dreyer can calm down about that. It can only happen on the part of those who dismiss the "Robbers" by the tendency poet Schiller from the standpoint of a "true" aesthetic. However, we do not want to go to the opposite extreme and place Dreyer's play too high in the rank of art because of its thoroughly sympathetic tendency. In the play, we are dealing with caricatures of characters and a caricatured plot. The "Rehearsal Candidate" is not a work that presupposes the truth of the portrayal. It is teeming with exaggerations and improbabilities. But we must emphasize to those who object to the play on the basis of this fact that caricature is a perfectly legitimate artistic style. If one does not overestimate the "rehearsal candidate", but regards it as an expression of the style transplanted to the stage, which finds no opponent in the quite artistically justified journals in the field of drawing, then one will do it justice.
Truth and probability are not fixed requirements for the drama. The drama poet may claim the same right that the political or other cartoonist has. Why should we blame the poet if he chooses the style that so often delights us in "Simplicissimus"?
«DER PROBEKANDIDAT»
Schauspiel in vier Aufzügen von Max Dreyer
Aufführung im Deutschen Theater, Berlin
Dr. Fritz Heitmann, dem Probekandidaten, ist der naturwissenschaftliche Unterricht in der obersten Klasse eines Gymnasiums übertragen. Er hat den Darwinismus zur Grundlage seiner wissenschaftlichen Denkweise gemacht und möchte auch seine Schüler im Geiste dieser Wahrheit heranbilden. Auch ist er ein ehrlicher Mann, der die Unwahrheit auch dann haßt, wenn sie in der vielfach beliebten Form der Notlüge auftaucht. Feigheit gegenüber denen, die im sozialen Körper höher stehen oder mächtiger sind als wir, sei der Ursprung dieser Untugend, sagt er zu seinem Schüler, der in der Religionsstunde ihre Berechtigung gelernt haben will. Es wird dem Manne schwer, auf dem Boden der Wahrheit zu bleiben. Er erregt den Zorn des Präpositus Dr. v. Korff. Dieser, ein Verwandter des Ministers und ein Träger der «Überzeugung», daß die Religion dem Volke nicht genommen werden dürfe, veranlaßt den Direktor der Schule, den unkrautsäenden Lehrer zur Raison zu bringen. Der ist in einer schwierigen Lage. Er soll die Stütze seiner Familie werden, die der Vater, ein verkrachter Gutsherr, nicht mehr über Wasser halten kann. Außerdem hat er eine Braut, deren Hand er von den Eltern nur erhalten kann, wenn er als Äquivalent seine Anstellung als Lehrer bieten kann. Er läßt sich zu dem Versprechen hinreißen, in einer Probelektion vor seinen Schülern die «Irrlehren» zu widerrufen, die er ihnen vorgetragen hat, und dafür echt christliche Offenbarungswahrheiten in die Seelen zu pflanzen. Dafür soll er des Amtes eines Jugendbildners würdig befunden werden. Als er aber seine Schüler um sich versammelt sieht und ihnen in die lieben Augen blickt, wird ihm klar, daß diese die Wahrheit und nichts anderes von ihm verlangen, und er bestätigt vor den Ohren seiner Vorgesetzten die von ihm vertretenen Gesichtspunkte. Die dankbaren Schüler lohnen ihn mit einem Ständchen; die Braut geht ihm verloren. Er ist aber ein aufrechter Mann geblieben.
Man hat diesem Drama seine «Tendenz» vorgeworfen. Darüber kann sich Dreyer beruhigen. Es kann nur von seiten derer geschehen, welche die «Räuber» des Tendenzdichters Schiller von dem Standpunkte einer «wahren» Ästhetik abkanzeln. Wir wollen damit aber nicht etwa ins umgekehrte Extrem verfallen und Dreyers Stück wegen seiner durchaus sympathischen Tendenz im Range der Kunst zu hoch stellen. Man hat es in dem Stücke mit Karikaturen von Charakteren und mit einer karikierten Handlung zu tun. Ein Werk, das die Wahrheit der Darstellung zur Voraussetzung hat, ist der «Probekandidat» nicht. Er wimmelt von Übertreibungen, von Unwahrscheinlichkeiten. Man muß aber den Stimmen gegenüber, die aus dieser Tatsache ihre Einwände gegen das Schauspiel holen, betonen, daß die Karikatur ein durchaus berechtigter Kunststil ist. Wenn man den «Probekandidaten» nicht zu hoch einschätzt, sondern ihn als Ausdruck des auf die Bühne verpflanzten Stiles ansieht, der in den durchaus künstlerisch berechtigten Journalen auf dem Gebiete der Zeichnung keinen Gegner findet, so wird man ihm gerecht werden.
Wahrheit und Wahrscheinlichkeit sind keine feststehenden Forderungen an das Drama. Der Schauspieldichter darf dasselbe Recht für sich in Anspruch nehmen, das der politische oder sonstige Karikaturenzeichner hat. Warum sollten wir den Dichter tadeln, wenn er den Stil wählt, der uns im «Simplicissimus» so oft ergötzt?