Collected Essays on Drama 1889–1900
GA 29
Automated Translation
Magazin für Litertur 1899, Volume 68, 18
118. “Herodes and Mariamne”
A tragedy in five acts by Friedrich Hebbel
Performance at the Königliches Schauspielhaus, Berlin
The infinite abundance and diversity of the solar system has brought Kepler's world-spanning power of thought, fueled by the imagination, to a few simple formulas of monumental size. Such formulas fill us with the deepest satisfaction. Our feeling for the richness of reality loses nothing when it is confronted with the awareness that simple, great, iron laws are expressed in the fullness of this reality. For the creation of nature has as its basis the secret that it produces diversity out of simplicity; and our spirit has the urge to penetrate from the confusing details to the simple basic plan that can be grasped in a few lines.
And as nature creates, so does the great poet. Hebbel's creations are based on this naturalness in the most beautiful sense of the word. The poet unfolds the details of human emotional life, its great conflicts, its nobility and its aberrations in great paintings. And when we survey these paintings, they reveal the great, simple traits by which the human soul lives. Hebbel made it almost a condition of genuine, dramatic poetry that its creations can be reduced to simple, grand formulas like the phenomena of nature itself.
Great love generates jealousy. And this jealousy cannot bear the thought that the beloved could ever belong to another. Herod wants Mariamne to die with him at the same time so that no other man can enter his most sacred place. How he tries to realize this is the content of "Herod and Mariamne". What has to happen when this will is fulfilled is carried out with gruesome consistency, with that consistency which again only nature shows when it allows the facts in space and time to develop according to its simple basic laws. The echo of Herod's passion lives in Mariamne's soul. She too does not want to live when her beloved is no longer there. But she wants to bring about this consequence herself; and that Herod seeks means to carry out his will of his own accord, that he does not have the confidence that she herself will go to her death when his own is announced to her: this brings about the catastrophe. Mariamne takes her revenge by pleading guilty and causing Herod to have her condemned to death for a crime she did not commit.
Herod's tragic fate is that he does not expect his wife's love to be equal to his own. He interferes with her free will. Where he intends to love, he wants to rule. Mariamne would make any sacrifice for his love; his rule rebounds against her pride. This is the simple, great truth that is presented to us in this enchanting painting of the soul.
Hebbel shows himself to be an unparalleled painter of the soul, a herald of human passions in their deepest form, as in all his dramas. The fidelity to nature in the individual goes hand in hand with the truth of nature in the broad outlines. It will always remain a mistake for poetry to strive for truth in detail. It thereby fails to recognize the deeper essence of things. It even goes beyond them.
«HERODES UND MARIAMNE»
Eine Tragödie in fünf Aufzügen von Friedrich Hebbel
Aufführung im Königlichen Schauspielhaus, Berlin
Die unendliche Fülle und Mannigfaltigkeit des Sonnensystems hat Keplers weltumspannende, von der Phantasie befruchtete Gedankenkraft auf ein paar einfache Formeln von monumentaler Größe gebracht. Solche Formeln erfüllen uns mit tiefster Befriedigung. Unser Gefühl für den Reichtum der Wirklichkeit verliert nichts, wenn ihm das Bewußtsein gegenübertritt, daß einfache, große, eherne Gesetze sich in der Fülle dieser Wirklichkeit aussprechen. Denn das Schaffen der Natur hat zu seiner Grundlage das Geheimnis, daß es aus der Einfachheit die Mannigfaltigkeit heraus erzeugt; und unser Geist hat den Drang, von den verwirrenden Einzelheiten zu dem einfachen, in wenigen Linien überschaubaren Grundplan vorzudringen.
Und wie die Natur schafft, so schafft der große Dichter. Hebbels Schöpfungen liegt diese Natürlichkeit im schönsten Sinne des Wortes zugrunde. Die Einzelheiten des menschlichen Seelenlebens, seine großen Konflikte, seinen Adel und seine Verirrungen entfaltet dieser Dichter in großen Gemälden. Und wenn wir diese Gemälde überblicken, so enthüllen sich in ihnen die großen, einfachen Züge, nach denen die menschliche Seele lebt. Geradezu zur Bedingung echter, dramatischer Dichtung hat es Hebbel gemacht, daß ihre Schöpfungen sich auf einfache, große Formeln bringen lassen wie die Erscheinungen der Natur selbst.
Die große Liebe erzeugt die Eifersucht. Und diese Eifersucht kann den Gedanken nicht ertragen, daß die Geliebte jemals einem andern angehören könne. Herodes will, daß Mariamne mit ihm zugleich sterbe, damit in sein Heiligstes kein anderer Mann dringe. Wie er das zu verwirklichen sucht, ist der Inhalt von «Herodes und Mariamne». Was erfolgen muß, wenn sich erfüllt, was dieser Wille fordert, ist mit grausiger Konsequenz durchgeführt, mit jener Konsequenz, die wieder nur die Natur zeigt, wenn sie die Tatsachen im Raume und in der Zeit ihren einfachen Grundgesetzen gemäß entwickeln läßt. In Mariamnes Seele lebt der Widerklang von Herodes’ Leidenschaft. Auch sie will nicht leben, wenn der Geliebte nicht mehr da ist. Aber sie will diese Konsequenz selbst herbeiführen; und daß Herodes Mittel sucht, von sich aus seinen Willen durchzuführen, daß er nicht das Vertrauen hat, sie werde selbst in den Tod gehen, wenn ihr der seinige verkündet wird: das führt die Katastrophe herbei. Mariamne rächt sich, indem sie sich schuldig stellt und Herodes veranlaßt, sie wegen einer Schuld, die sie nicht begangen hat, zum Tode verurteilen zu lassen.
Herodes’ tragisches Geschick ist, daß er von der Liebe der Gattin nicht erwartet, daß sie sich der seinigen gleich erweisen werde. Er greift in ihre freie Willenssphäre ein. Wo er zu lieben gedenkt, will er herrschen. Seiner Liebe brächte Mariamne jedes Opfer; seine Herrschaft prallt an ihrem Stolze ab. Das ist die einfache, große Wahrheit, die uns in dem hinreißenden Seelengemälde vor Augen geführt wird.
Als ein Seelenmaler ohnegleichen, als Kündiger der menschlichen Leidenschaften in ihrer tiefsten Gestalt, zeigt sich Hebbel da wie in allen seinen Dramen. Die Naturtreue im einzelnen geht Hand in Hand mit der Naturwahrheit in den großen Zügen. Es wird immer ein Irrtum bleiben, wenn die Dichtung nach der Wahrheit im einzelnen strebt. Sie verkennt dadurch die tiefere Wesenheit der Dinge. Sie geht sogar über diese hinweg.