The Essence of Christianity
GA 68a
6 November 1909, Bremen
Automated Translation
XLVII. The Higher Meaning of the Gospel of John
Report in the “Bremer Nachrichten” of November 9, 1909
Theosophical Society (Adyar), Bremen branch. Last Saturday, the Secretary General of the Theosophical Society, Dr. Rudolf Steiner of Berlin, spoke before a large audience at the Gewerbehaus on the topic of the higher significance of the Gospel of John. The speaker, as we were told, [among other things] stated the following: The two factors on which today's man relies when he searches for the sources of his religious concepts are, firstly, the abstract ideal that he creates in his heart of the Christ, and secondly, the external documents, the Gospels, to which he turns when he seeks consolation. The first leaders of Christianity had a different attitude to the Gospels than today's. They were not put off by the contradictions, but were glad that their view was opened in four directions. When one knows that each Evangelist wanted to portray a special aspect of the divine Being, then the apparent riddle of the Gospel of John, as the wisdom aspect, is solved. Today there is a new tool for the exploration of the tremendous Christ problem: spiritual research. Just as external science uses instruments to examine physical matter, so spiritual research uses its instrument, the human soul, to enter the spiritual world. With this developed instrument, the past can be fathomed without external records. Not everyone needs to become a spiritual researcher, just as not everyone needs to become a natural scientist. The unbiased person will use his sound reason to test the claims of the spiritual researcher. Critical research frays the fibers, spiritual research brings full light. There is not a single superfluous word in any of the four Gospels. Anyone who approaches them with a developed sense of truth has the impression that no more significant document could ever be created. This is especially true of the Gospel of John, which seems mysterious to people because of its beginning. The Logos (the Word) was called that which permeates the whole world, namely the ideas of wisdom. Man can form a certain idea of the wisdom-filled cause if he seeks to regard his own ego as a drop and the divine being as an ocean in which all ideas are contained. “In the beginning was the Logos” (John 1:1) can be translated as: “Before there was a visible world, there was the spiritual one, in which all the egos of humanity are rooted.” It will take a long development before man can recognize the highest human degree of development of the I, which was embodied in Christ Jesus. Not what was in him as a power was also in John; but the ability to recognize him completely was, for John means “seer”, or more correctly “feeler of God within”; because the forerunner, the Baptist, was such a one, the Evangelist could refer to him as a witness. The evolution of humanity is based on the law of love, which before Christ was linked to blood relationship. With the appearance of Christ Jesus, humanity was faced with the task of striving for the great ideal of universal brotherhood. Understanding from soul to soul, the cooperation of separated egos outside of blood relationship has only become possible with the appearance of Jesus. At the marriage at Cana, the mother was still a partner in the blood bond, which the Samaritan woman, as a stranger by blood, proves that the power of the ego penetrated into the alien soul. The resurrection of Lazarus proves the flowing over of his soul into the other being. The Mystery of Golgotha becomes understandable when one considers the development of humanity. The great Buddha, at the sight of death, gains the conviction that life is suffering; 600 years later, at the sight of the Christian symbol of Golgotha, the disciples gain the conviction of the victory of life over death. The spiritual world is not closed as long as man strives to let the spirit of Christ Jesus flow into him. Every sunrise can be a comparison for the awakening of the developed sense of truth. A forerunner for the understanding of Christ is the Gospel of John. — The speaker was rewarded with warm applause.
Die Höhere Bedeutung des Johannesevangeliums
Bericht in den «Bremer Nachrichten» vom 9. November 1909
Theosophische Gesellschaft (Adyar), Zweig Bremen. Am letzten Sonnabend sprach im Gewerbehaus vor einem zahlreichen Publikum der Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft, Herr Dr. Rudolf Steiner aus Berlin, über das Thema: Die höhere Bedeutung des Johannesevangeliums. Der Redner führte, wie uns berichtet wird, [unter anderem] Folgendes aus: Die zwei Faktoren, auf welche der heutige Mensch, wenn er nach den Quellen seiner religiösen Begriffe forscht, angewiesen ist, sind erstens das abstrakte Ideal, welches er sich in seinem Herzen von dem Christus schafft, zweitens die äußeren Urkunden, die Evangelien, an welche beiden Faktoren er sich wendet, wenn er Trost sucht. Die ersten Führer der Christenheit stellten sich zu den Evangelien anders als die heutigen. Sie haben sich nicht an den Widersprüchen gestoßen, sondern waren froh, dass ihnen der Blick nach vier Richtungen hin eröffnet wurde. Wenn man weiß, dass jeder Evangelist einen besonderen Aspekt des göttlichen Seins darstellen wollte, so werden die scheinbaren Rätsel des Johannesevangeliums, als Weisheitsaspekt, gelöst. Zur Erforschung des gewaltigen Christusproblems gibt es heute ein neues Werkzeug: die Geistesforschung. Wie die äußere Wissenschaft mit Instrumenten die physische Materie untersucht, so geht die Geistesforschung mit ihrem Instrument, der menschlichen Seele, in die geistige Welt. Mit diesem entwickelten Instrument kann die Vergangenheit ergründet werden, ohne äußere Urkunden. Es braucht zwar nicht jeder ein Geistesforscher zu werden, wie nicht jeder ein Naturforscher zu werden braucht. Der Unbefangene wird seine gesunde Vernunft zurate ziehen, um die Behauptung des Geistesforschers zu prüfen. Die kritische Forschung zerfasert, die geistige bringt volles Licht. In allen vier Evangelien ist kein Wort überflüssig. Wer mit entwickeltem Wahrheitssinn an sie herantritt, hat den Eindruck, dass nie eine bedeutendere Urkunde geschaffen werden konnte. Besonders was das Johannesevangelium betrifft, welches seines Anfanges wegen den Menschen geheimnisvoll anmutet. Den Logos (das Wort) nannte man das, was die ganze Welt durchwebt, nämlich die Weisheitsideen. Der Mensch kann sich eine gewisse Vorstellung von der weisheitsvollen Ursache machen, wenn er sein eigenes Ich als Tropfen, das göttliche Sein als Ozean zu betrachten sucht, in welchem alle Ideen enthalten sind. «Im Urbeginn war der Logos» (Joh 1,1) können wir übersetzen mit: «Bevor es eine sichtbare Welt gab, war die geistige, in welcher alle Ichs der Menschheit wurzeln.» Es ist eine lange Entwicklung nötig, bis der Mensch den höchsten menschlichen Entwicklungsgrad der Ichheit, der in dem Christus Jesus verkörpert war, erkennen kann. Nicht was als Kraft in diesem war, war auch ein Johannes; wohl aber die Fähigkeit, ihn ganz zu erkennen, denn Johannes heißt «Seher», richtiger «Gottesinsichfühler»; weil der Vorläufer, Täufer, ein solcher war, konnte der Evangelist sich als Zeugen auf ihn berufen. Die Menschheitsentwicklung beruht auf dem Gesetz der Liebe, welches vor Christus an die Blutsverwandtschaft geknüpft war. Bei dem Auftreten des Christus Jesus war die Menschheit vor die Aufgabe gestellt, das große Ideal der allgemeinen Verbrüderung anzustreben. Das Verständnis von Seele zu Seele, das Zusammenwirken getrennter Iche außerhalb der Blutsverwandtschaft ist erst mit dem Auftreten Jesu möglich geworden. Bei der Hochzeit zu Kana war die Mutter noch Partnerin der Blutsbande, die Samariterin als Blutsfremde beweist, dass des Ichs Macht hineindrang in die fremde Seele. Die Erweckung des Lazarus beweist das Hinüberfließen seiner Seele in die andere Wesenheit. Das Mysterium von Golgatha wird verständlich, wenn man die Entwicklung der Menschheit betrachtet. Der große Buddha gewinnt beim Anblick des Todes die Überzeugung, dass Leben Leiden ist, 600 Jahre später gewinnen die Jünger im Anblicke des christlichen Symbolums von Golgatha die Überzeugung vom Sieg des Lebens über den Tod. Die Geisteswelt ist nicht verschlossen, solange der Mensch strebt, den Geist des Christus Jesus in sich einfließen zu lassen. Jeder Sonnenaufgang kann uns ein Vergleich für das Aufgehen des entwickelten Wahrheitssinnes sein. Ein Vorläufer für das Christusverständnis ist das Johannesevangelium. — Reicher Beifall lohnte den Redner.