Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24
Die wirklichen Kräfte in dem sozialen Leben der Gegenwart
[ 1 ] Die Gruppe von Menschen, die im Frühling 1919 damit begann, den Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus zu propagieren, wollte in ehrlicher Weise an der Besserung der menschlichen Lebensverhältnisse arbeiten. Sie konnte aus dieser Ehrlichkeit heraus der Arbeiterbevölkerung nicht die alten Schlagworte und Phrasen bringen, welche seit Jahrzehnten in der sozialistischen Agitation ihr Wesen getrieben hatten. Mit diesen Phrasen und Schlagworten konnte man die bisherige gesellschaftliche Ordnung wohl kritisieren, man konnte den führenden Klassen sagen, was sie unterlassen haben, aber man konnte nichts aufbauen. Man konnte damit Utopien ausdenken, aber man konnte der sozialen Wirklichkeit nicht Kräfte zuführen, welche dem Leben so dienen, daß darinnen jeder Mensch ein menschenwürdiges Dasein findet.
[ 2 ] Die Träger des Dreigliederungsgedankens gingen nicht von solchen Phrasen und Schlagworten aus. Sie begründeten ihr Wollen auf den festen Lehren, die das Leben selbst gibt. Sie sprachen von dem Standpunkt dieser Lebenslehren aus sowohl zu den Persönlichkeiten der führenden Klassen wie auch zu den Proletariern. Sie sind bisher von keiner Seite verstanden worden. Aber sie wissen gerade deshalb, weil sie ihre Gedanken aus dem wirklichen Leben geholt haben, daß von einer Besserung der Zustände erst die Rede sein kann, wenn man diese Lebenslehren verstehen wird. Sie können nichts anderes tun, als diese Lehren so lange zu wiederholen, bis sie ein geneigtes Ohr finden.
[ 3 ] Warum hat man dieTräger des Dreigliederungsgedankens nicht verstanden? Das Proletariat fand, daß sie zu kompliziert sprachen. Es konnte nicht sogleich sehen, wie durch ihre Gedanken sich wirklich nicht bloß ein Ziel, sondern auch ein Weg zeigte aus den geistigen, staatlichen und wirtschaftlichen Unmöglichkeiten heraus. Man wollte, daß sie einfacher sprächen. Aber man bedachte dabei nicht, daß das Leben selbst kompliziert ist. Der Träger des Dreigliederungsgedankens ist in derselben Lage wie ein Arzt. Dieser soll seine Ratschläge geben. Er wird das nur tun können, wenn er den ganzen komplizierten menschlichen Organismus kennt. Kann man von ihm verlangen, daß er zu jedem Menschen von diesem Organismus so spricht, wie es zu verstehen ist, wenn man sich nicht auf das einläßt, was über das Leben des Organismus gelernt werden muß? Man kann das nicht verlangen, weil er durch das Befolgen dieses Verlangens zum Schlagwort und zur Phrase greifen müßte. Das aber konnten diese Träger nicht. Denn sie wollten nur sagen, was in jedem Satze von Ehrlichkeit durchdrungen war. Was sie zu sagen haben, kann verstanden werden. Aber man muß sich erst durchringen zu diesem Verständnis.
[ 4 ] Der Proletarier wird sagen: Also wollt ihr allerlei gelehrtes Zeug zu uns sprechen, wir aber wollen die einfache Sprache des Volkes hören. Darauf ist zu erwidern: Nein, gelehrtes Zeug wollen wir nicht sprechen, sondern die Sprache des wirklichen Lebens. Wir wollen nur von Kapital und Arbeit sprechen vom Gesichtspunkte der Sachkenntnis wie der Arzt oder Naturkenner vom menschlichen Organismus und nicht wie der Kurpfuscher. Aber wenn man so sprechen will, dann wird man nur verstanden, wenn auch der andere den rechten Weg des Verstehens beschreiten will. Es wird dieser Weg nur gefunden werden, wenn er durch Herz und Seele zum Verstande gehen will. Der Schreiber dieser Zeilen ist von der Überzeugung durchdrungen, daß die Träger des Dreigliederungsgedankens so sprechen, daß man ihnen Verständnis für die wahre Lage des Proletariats ansieht, wenn man sie vom Herzen und von der Seele aus beurteilen will. Das Proletariat hat bis jetzt diesen Weg durch Herz und Seele nicht genügend gesucht. Es hat geurteilt nach denVerstandeslehren, die es durch den landläufigen Sozialismus eingesogen hat. Es hat verlangt, daß die Träger des Dreigliederungsgedankens auch so sprechen sollen, wie es bisher nach diesen Verstandeslehren gewohnt war. Das konnten diese nicht, weil sie wissen, daß diese Lehren dem Leben widersprechen und deshalb zu nichts führen.
[ 5 ] Der Schreiber dieser Zeilen will nicht einer wüsten Phantastik das Wort reden. Er sagt deshalb nicht, daß der Verstand abgesetzt werden soll und nur durch Herz und Seele ein Weg gesucht werden könne. Gewiß, der Verstand muß der sichere Führer sein, aber in sozialen Dingen gibt es keinen andern Weg zu dem richtigen Verstandesgebrauch als den durch Herz und Seele. Auf einen solchen Weg rechnen meine «Kernpunkte der sozialen Frage» und mein Buch «In Ausführung der Dreigliederung des sozialen Organismus». Ich glaube nicht, daß in diesen Büchern jemand die Lebensbeurteilung vom Standpunkt des Verstandes aus vermißt, aber ich habe mich im Interesse der Sache doch gefreut, als ich vor kurzem in einer Besprechung des ersten Buches von fremder Seite her las, daß darinnen die soziale Frage ebenso durch die Kräfte des Herzens wie des Verstandes erfaßt sei.
[ 6 ] Ebensowenig wie von proletarischer Seite ist der Dreigliederungsgedanke von Persönlichkeiten der bisher führenden Kreise verstanden worden. Diese sind mit ihren Gedanken so eingesponnen in die bisherigen wirtschaftlichen Routinen, daß sie sich von vornherein auf etwas nicht einlassen, das nicht in ihren gewohnten Bahnen läuft. Manche von ihnen sehen ein, daß etwas geschehen müsse; wenn man aber mit bestimmten Gedanken herausrückt über das, was geschehen soll, so schrecken sie davor zurück, weil sie glauben, daß sie die Wirklichkeit haben und daß ihnen diese durch eine Phantastik gestört werden soll. Die meisten sagen, sie haben keine Zeit, um sich mit solchen Ideen zu beschäftigen. Und wer nicht von vornherein ungerecht sein will, der muß sogar zugeben - sie haben wirklich keine Zeit. Sie haben von morgens bis abends zu tun, um im alten Sinne fortzuarbeiten, sie kommen abends aus dem Büro mit ermüdetem Kopf, der nichts mehr aufnehmen will, selbst dann, wenn sie mit gutem Willen sich einmal hinsetzen - um sich das Ding anzusehen. So beschränken sie sich darauf, die Brüche, die im Hergebrachten entstehen, zu leimen. Sie werden so lange nicht Zeit haben, bis sie werden einsehen müssen, daß die Zeit, die sie ausgefüllt haben, doch vergeudet war, und daß die viel besser angewendet gewesen wäre, die sie sich nicht glaubten gönnen zu dürfen. Ich rede dabei von denen, die wenigstens einigen guten Willen haben. Auf die andern - ach, sie sind so zahlreich - kann im Ernste doch nicht gerechnet werden.
[ 7 ] Wer den Dreigliederungsgedanken verstehen will, der muß sich die Mühe nehmen, zu verfolgen, wie befruchtende Gedanken für das Rechts- und Wirtschaftsleben nur von einem auf sich selbst gestellten Geistesleben kommen können. Er muß vom Leben sich darüber belehren lassen, wie ein vom Rechts- und Wirtschaftswesen aus verwaltetes Erziehungs- und Unterrichtssystem diejenige Regsamkeit verliert, die zur Aufrechterhaltung des sozialen Organismus notwendig ist. Von da aus wird er dann auch zum Verständnis eines assoziativ gestalteten Wirtschaftslebens und eines wirklich demokratischen Rechtslebens kommen. Der Schreiber dieser Zeilen hat versucht, in den obengenannten Büchern diesen Weg des Verständnisses sachgemäß, so gut er es konnte, zu zeigen.
[ 8 ] Will man auf einen solchen Weg weisen, so muß man von den sozialen Kräften ausgehen, die in dem gegenwärtigen Zeitalter wirksam sind. Die moderne Technik hat das Leben umgestaltet; die neuere Wissenschaft ist durch das entwickelte Schulwesen in die Seelen weitester Kreise als Lebensansicht gedrungen. Das hat neue Vorstellungen von einem menschenwürdigen Dasein geschaffen. Mit diesen beiden sehr realen Kräften der Gegenwart rechnen die Träger der Dreigliederung. Man wird deren Ideen dann verstehen, wenn man fühlen wird, was diese Kräfte bedeuten. Viele rechnen zwar mit der Technik, aber nicht mit dem Leben der Menschen, die in diese Technik eingespannt sind. Andere rechnen mit dem Wissenschaftsgeist. Sie wollen ihn - mit Recht - in den Schulen gepflegt haben. Aber sie rechnen nicht mit den Seelenstimmungen, die er erzeugt. Der Dreigliederungsgedanke rechnet mit dem, was sie aus der Rechnung herausfallen lassen.
[ 9 ] Der Proletarier hat das Vertrauen verloren, weil er empfindet, wie so viele weder mit seinem Leben, noch mit seiner Seele rechnen. Es wird erst besser werden können, wenn er durch Herz und Seele den Weg findet zu den sozialen Ideen, die mit beiden rechnen, und die ihm eben deshalb seine liebgewordenen Schlagworte nicht weiter bieten können, weil sie einen wirklichen Weg und nicht das Berauschen mit utopistischen Gedanken wollen.
The Real Forces in Contemporary Social Life
[ 1 ] The group of people who began to propagate the idea of the threefolding of the social organism in the spring of 1919 wanted to work honestly on the improvement of human living conditions. Out of this honesty, they could not bring the working population the old slogans and catchphrases that had been used for decades in socialist agitation. These phrases and slogans could be used to criticize the existing social order, to tell the leading classes what they had failed to do, but they could not be used to build anything. They could be used to dream up utopias, but they could not add forces to social reality that would serve life in such a way that every human being could find a dignified existence in it.
[ 2 ] The proponents of the threefold idea did not start from such phrases and slogans. They based their will on the solid teachings that life itself provides. They spoke from the standpoint of these life teachings to the leading classes as well as to the proletarians. They have not yet been understood by either side. But they know, precisely because they have drawn their thoughts from real life, that there can be no question of an improvement in conditions until these teachings of life are understood. They can do nothing but repeat these teachings until they find a sympathetic ear.
[ 3 ] Why have the bearers of the Threefold Thought not been understood? The proletariat thought they spoke too complicatedly. It could not immediately see how their thoughts really showed not only a goal, but also a way out of the spiritual, national and economic impossibilities. They wanted them to speak more simply. But they did not realize that life itself is complicated. The bearer of the threefold idea is in the same position as a doctor. He has to give his advice. He will only be able to do this if he knows the whole complicated human organism. Can he be expected to speak to every human being about this organism in a way that can be understood, if he does not get involved in what needs to be learned about the life of the organism? This cannot be demanded, because in complying with this demand he would have to resort to catchwords and phrases. But these bearers could not do that. For they only wanted to say what was imbued with honesty in every sentence. What they have to say can be understood. But you first have to bring yourself to this understanding.
[ 4 ] The proletarian will say: So you want to speak all kinds of learned things to us, but we want to hear the simple language of the people. To this we must reply: No, we don't want to speak scholarly stuff, but the language of real life. We only want to speak of capital and labor from the point of view of expertise, like a doctor or expert in nature speaks of the human organism, and not like a curing physician. But if you want to speak in this way, you will only be understood if the other person also wants to follow the right path of understanding. This path will only be found if he wants to go through heart and soul to the mind. The writer of these lines is imbued with the conviction that the bearers of the Threefold Thought speak in such a way that one can see their understanding of the true situation of the proletariat if one wants to judge them from the heart and soul. Up to now the proletariat has not sufficiently sought this path through heart and soul. It has judged according to the doctrines of the mind which it has imbibed through popular socialism. It has demanded that the bearers of the Threefold Thought should also speak as it has been accustomed to speak according to these intellectual doctrines. They could not do so because they know that these teachings contradict life and therefore lead to nothing.
[ 5 ] The writer of these lines does not want to speak of a wild fantasy. He is therefore not saying that the mind should be set aside and that a path can only be sought through the heart and soul. Certainly, the intellect must be the safe guide, but in social matters there is no other way to the right use of the intellect than through the heart and soul. My "Kernpunkte der sozialen Frage" and my book "In Ausführung der Dreigliederung des sozialen Organismus" count on such a path. I do not believe that in these books anyone misses the assessment of life from the point of view of the intellect, but I was nevertheless pleased, in the interest of the cause, when I recently read in a review of the first book from another source that in it the social question is grasped by the powers of the heart as well as the intellect.
[ 6 ] No more than from the proletarian side has the idea of threefolding been understood by personalities in the leading circles. Their thoughts have been so caught up in the economic routines of the past that from the outset they do not get involved in anything that does not run along their usual lines. Some of them realize that something has to happen, but if you come out with specific thoughts about what should happen, they shy away from it because they believe that they have reality and that it should be disturbed by fantasy. Most of them say they have no time to deal with such ideas. And if you don't want to be unfair from the outset, you even have to admit - they really don't have time. They are busy from morning till night in order to continue working in the old sense, they come out of the office in the evening with a tired head that doesn't want to take anything in, even if they sit down once with good will - to look at the thing. So they limit themselves to gluing together the fractures that arise in the traditional. They will not have time until they have to realize that the time they have spent was wasted and that the time they thought they were not allowed to spend would have been much better spent. I'm talking about those who have at least some good will. The others - alas, they are so numerous - cannot seriously be counted on.
[ 7 ] Whoever wants to understand the threefold idea must take the trouble to follow how stimulating thoughts for legal and economic life can only come from a spiritual life that is set on itself. He must allow himself to be instructed by life as to how an educational and teaching system administered by the legal and economic system loses that responsiveness which is necessary for the maintenance of the social organism. From there he will also come to an understanding of an associatively organized economic life and a truly democratic legal life. The writer of these lines has tried to show this path of understanding as best he could in the above-mentioned books.
[ 8 ] If one wishes to point to such a path, one must start from the social forces at work in the present age. Modern technology has reshaped life; modern science has penetrated the souls of the widest circles as a view of life through the developed school system. This has created new ideas of a humane existence. The promoters of the threefold structure reckon with these two very real forces of the present. You will understand their ideas when you feel what these forces mean. Many reckon with technology, but not with the lives of the people who are involved in this technology. Others reckon with the spirit of science. They want it - and rightly so - to be cultivated in schools. But they do not reckon with the moods of the soul that it creates. The idea of threefolding reckons with what they leave out of the equation.
[ 9 ] The proletarian has lost confidence because he feels that so many do not reckon with his life or his soul. Things will only get better when he finds his way through heart and soul to the social ideas that reckon with both, and which for this very reason can no longer offer him his cherished slogans, because they want a real path and not intoxication with utopian thoughts.