Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24
Schattenputsche und Ideenpraxis
[ 1 ] Über den Wandel, der sich in allen öffentlichen Angelegenheiten seit 1914 vollzogen hat, erstreben heute noch wenig Menschen eine klare Einsicht. Man erlebt die Not der Zeit. Man hofft auf dieses und jenes. Aber man ist weit entfernt von einer wirklichen Besinnung auf das, was sich unter unseren Augen vollzieht. Man hat in Deutschland eine aufständische Bewegung hinter sich. Man fürchtet neue ähnliche Bewegungen. - Kann aber jemand in klarer Art sagen, was diejenigen eigentlich wollen, die hinter einer solchen Bewegung stehen? Man nennt sie eine solche der rechtsstehenden Parteien. Nun, vor noch nicht langer Zeit konnte man einen vernünftigen Sinn verbinden mit dem Worte «rechtsstehende Partei». Diese Partei hatte ein genau umschriebenes Programm. Ihm stand gegenüber das Programm der linksstehenden Parteien.
[ 2 ] Man sollte sich doch endlich eingestehen, daß diese Programme seit 1914 völlig bedeutungslos geworden sind. Wer ehedem rechts gestanden hat, der kann heute von seinem Programm gegenüber dem Wandel der Tatsachen nicht mehr im Ernste sprechen. Hat er Wirklichkeitssinn in sich, so muß er einsehen, daß er das nicht mehr wollen kann, was den Inhalt seines Programms noch vor kurzer Zeit bildete. Ebensowenig kann es der Linksstehende. Er hat durch Jahrzehnte seine Zukunffshoffnungen in seinem Programm zum Ausdruck gebracht. Er muß jetzt sehen, daß sich über dieses Programm wohl politisch reden ließ, solange man damit einem andern opponieren wollte; daß es sich aber als Phrase erweist, da man aus ihm heraus eine soziale Wirklichkeit gestalten soll. Kämpfen denn heute noch in Wirklichkeit Parteien gegeneinander im Sinne ihrer alten Programme? Nein. Die Programme sind zur Phrase geworden und nur die Personen sind noch geblieben, die ehedem an diesen Programmen etwas gehabt haben. Es gibt eigentlich keine «rechtsstehenden» und keine «linksstehenden» Parteien mehr, sondern nur noch ihre Schatten. Denn Parteien sind ohne Parteiprogramme nichtig.
[ 3 ] Die Personen, die sich vor noch kurzer Zeit unter dem sachlichen Inhalt einer bestimmten Willensrichtung vereinigt gehalten haben, stehen aus alter Gewohnheit noch zusammen. Sie bilden Gruppen. Aber ihr Zusammenhalt ist im Grunde nur noch ein persönlicher. Der ehemals Reaktionär war, hat den Inhalt seines Wollens verloren, aber er hält noch zusammen mit denen, die auch Reaktionäre waren. Er hofft, daß er mit ihnen zusammen zur Herrschaft gelangen werde. Der vor kurzer Zeit Marxist war, hält an seinem Marxismus noch fest, weil er doch von irgend etwas reden muß, um sich auszusprechen. Einen vernünftigen Sinn zieht er aus seinem Marxismus nicht. Aber er findet sich, mehr oder weniger radikal, mit andern zusammen, die auch Marxisten waren; er bildet mit ihnen Gruppen, die bloß zusammengehalten werden durch die persönliche Verwandtschaft, die aus ihrem früheren Marxismus stammt. Auch die Personen dieser Gruppen hoffen, daß sie mit Leuten, die solche persönliche Verwandtschaft mit ihnen haben, zur Herrschaft gelangen werden.
[ 4 ] Den hiermit gekennzeichneten Charakter tragen heute die Kämpfe des öffentlichen Lebens. Auch die Urteile, die sich in diesen Kämpfen geltend machen, tragen diesen Charakter. Gewisse Personen geraten in Aufregung, wenn sie über den «militaristischen Putsch» sprechen. Sie merken gar nicht, wieviel Nebuloses da in ihre Vorstellungen einfließt. Im Grunde wüßten die Putschisten, wenn sie zur Herrschaft gelangten, heute so wenig, was sie tun sollen, wie es ihre Gegner in dem gleichen Fall wissen. Man kann sich eigentlich gar nicht vor irgendeinem bestimmten Wollen einer solchen Gruppe fürchten; man kann nur eine unbestimmte Furcht vor den Personen haben, die ehemals ein bestimmtes Wollen hatten.
[ 5 ] Richtig betrachtet liegt die Sache wesentlich anders, als sie gegenwärtig zumeist betrachtet wird. Die Personen, die ehemals die Herrschaft geübt haben, sind dadurch gekennzeichnet, daß sie aus einer Willensrichtung heraus gehandelt haben, die durch die Schreckensjahre, die Europa hinter sich hat, als eine unmögliche sich dargestellt hat. Die andern Personen, die sie ablösen wollen, haben aus den Lebenslagen heraus, in denen sie bisher waren, Ideen noch nicht gefunden, die in der Verwirklichung mögliche soziale Verhältnisse liefern könnten.
[ 6 ] Personengruppen, zusammengehalten durch alte Gewohnheiten, durch Sympathien und Antipathien, kämpfen heute um die Macht. Beiden gemeinsam ist, daß sie mit der Macht nichts anfangen können, wenn sie sie haben, weil ihnen eine den Tatsachen gewachsene Zielsetzung fehlt.
[ 7 ] Diese Sachlage nimmt immer weitere Dimensionen an. Die öffentlichen Kämpfe verlieren immer mehr ihren geistigen Inhalt. Demokratie, Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, sind Worte, die ehemals einen Inhalt gehabt haben, die ihn aber verloren haben. Das Leben aber wird unter diesen Umständen richtungslos, barbarisiert sich.
[ 8 ] Die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus trägt dieser Sachlage Rechnung. Sie spricht von Impulsen, die aus dem Wesen der Menschheit selbst stammen; die aus den Tiefen der Menschenwesenheit herauf sich zur sozialen Wirklichkeit gestalten wollen. Sie redet wieder von einer Realität, von einer solchen, die in den Tatsachen des gegenwärtigen Lebens sich ganz deutlich offenbart. Für diese Idee ist es durchsichtig, daß die alten Parteiprogramme ihre Inhalte verloren haben und daß von ihnen nur noch die Erinnerungen an sie in den Personen übrig geblieben sind, die sich früher ihnen verschrieben hatten. «Rechts- und linksstehend» bedeutet heute keine Wirklichkeit; eine solche sucht die Idee von der Dreigliederung. Man kann für sie Verständnis anstreben, gleichgültig, ob man ein wesenloses «Rechtsstehen» oder ein wesenloses «Linksstehen» aus alter Gewohnheit noch im Leibe mit sich herumträgt wie einen toten Fremdkörper in einem lebendigen Organismus. Mit alten Gewohnheiten, mit den Schatten der Vergangenheit müssen kämpfen die Träger der Dreigliederungs-Idee. Sie möchten inmitten der immer mehr zum Streben nach persönlicher Macht ausartenden öffentlichen Instinkthandlungen die von der Idee getragene Willensrichtung setzen. Sie möchten dem Leben die Richtung geben nicht im Sinne alter Schattenphrasen, sondern im Sinne der von der Zeit geforderten Wirklichkeit.
Shadow Putsches and the Practice of Ideas
[ 1 ] Few people today still strive for a clear insight into the changes that have taken place in all public affairs since 1914. People experience the hardship of the times. People hope for this and that. But we are far removed from any real reflection on what is happening before our eyes. There is an insurrectionary movement behind us in Germany. We fear new similar movements. - But can anyone say clearly what those behind such a movement actually want? They call it a movement of right-wing parties. Well, not so long ago, the word "right-wing party" had a reasonable meaning. This party had a precisely defined program. It was contrasted with the program of the left-wing parties.
[ 2 ] One should finally admit to oneself that these programs have become completely meaningless since 1914. Those who once stood on the right can no longer seriously speak of their program in the face of changing facts. If he has a sense of reality in him, he must realize that he can no longer want what was the content of his program only a short time ago. Nor can the leftist. For decades he has expressed his hopes for the future in his program. He must now see that this program could be talked about politically as long as one wanted to oppose another; but that it proves to be a phrase, since one is supposed to shape a social reality out of it. Do parties still fight against each other today in the spirit of their old programs? No. The programs have become phrases and only the people who once had something to do with these programs remain. There are no longer any "right-wing" or "left-wing" parties, only their shadows. Because parties are void without party programs.
[ 3 ] People who only a short time ago were united under the factual content of a certain direction of will still stand together out of old habit. They form groups. But their cohesion is basically only personal. The former reactionary has lost the content of his will, but he still holds together with those who were also reactionaries. He hopes that he will come to power together with them. He who was a Marxist a short time ago still clings to his Marxism because he has to talk about something in order to express himself. He does not draw any rational meaning from his Marxism. But he comes together, more or less radically, with others who were also Marxists; he forms groups with them that are held together merely by the personal kinship that stems from their earlier Marxism. The people in these groups also hope that they will come to power with people who have such personal kinship with them.
[ 4 ] The struggles of public life today have the same character. The judgments that assert themselves in these struggles also bear this character. Certain people get excited when they talk about the "militarist coup". They don't even realize how much nebulousness flows into their ideas. Basically, if the putschists came to power, they would know as little today about what to do as their opponents would know in the same case. One cannot really be afraid of any particular will of such a group; one can only have an indeterminate fear of the people who once had a particular will.
[ 5 ] When viewed correctly, the situation is substantially different from how it is usually viewed at present. The people who once exercised power are characterized by the fact that they acted out of a direction of will that was rendered impossible by the years of horror that Europe has gone through. The other people who want to replace them have not yet found ideas from the life situations in which they have been so far, which could provide possible social conditions in the realization.
[ 6 ] Groups of people, held together by old habits, by sympathies and antipathies, are fighting for power today. What both have in common is that they cannot do anything with power when they have it, because they lack an objective that has grown out of the facts.
[ 7 ] This situation is taking on ever greater dimensions. Public battles are increasingly losing their intellectual content. Democracy, conservatism, liberalism, socialism are words that used to have content but have lost it. Under these circumstances, life becomes directionless and barbarized.
[ 8 ] The idea of the threefold structure of the social organism takes this situation into account. It speaks of impulses that originate from the essence of humanity itself; impulses that want to shape themselves into social reality from the depths of human nature. It speaks again of a reality, one that reveals itself quite clearly in the facts of present life. For this idea it is obvious that the old party programs have lost their content and that only the memories of them remain in the people who had previously committed themselves to them. "Right-wing and left-wing" does not mean a reality today; the idea of the threefold structure seeks such a reality. We can strive to understand them, regardless of whether we still carry around an insubstantial "right-wing" or an insubstantial "left-wing" in our bodies from old habits, like a dead foreign body in a living organism. The bearers of the threefold idea have to fight with old habits, with the shadows of the past. In the midst of public instinctive actions that increasingly degenerate into striving for personal power, they want to set the direction of the will borne by the idea. They want to give life direction not in the sense of old shadowy phrases, but in the sense of the reality demanded by the times.