Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus
GA 24
Eine preisgekrönte wissenschaftliche Arbeit über die Geschichte des Kriegsausbruches
«Neue Badische Landeszeitung» Mannheim, 62. Jg. Nr. 193, Abendausgabe vom 17. April 1917
[ 1 ] Innerhalb der ins Unübersehbare angewachsenen Kriegsliteratur darf der vom historischen Seminar der Universität Bern preisgekrönten Schrift Dr. Jacob Ruchtis «Zur Geschichte des Kriegsausbruches nach den amtlichen Akten der königlich großbritannischen Regierung» ein ganz besonderer Wert zuerkannt werden. Denn sie enthält eine Betrachtung, die nach den strengen Regeln geschichtswissenschaftlicher Forschung und derjenigen wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit angestellt ist, die der Historiker sucht, wenn er über Tatsachenzusammenhänge sich ein Urteil bilden will. Was gewöhnlich im Wissenschaftsbetrieb erst lange nach Verlauf der in Frage kommenden Geschehnisse versucht wird, Ruchti unternimmt es für die Ereignisse der unmittelbaren Gegenwart. Man muß nach Prüfung seiner Arbeit sagen, daß ein günstiges Urteil über ihren Inhalt, eine Würdigung ihrer Ergebnisse durchaus nicht die Folge zu sein braucht des Standpunktes gegenüber den Kriegsursachen, den man nach seiner Volkszugehörigkeit oder ähnlichen Ursachen einnimmt, sondern daß zu einer solchen Würdigung die sachlich befriedigende wissenschaftliche Methode des Verfassers denjenigen führen kann, der für wissenschaftlich zu gewinnende Überführungen überhaupt zugänglich ist.
[ 2 ] Nun sind viele Menschen der Ansicht, daß eine Besprechung der Kriegsursachen heute schon eine unfruchtbare Sache geworden ist. Eine solche Ansicht kann aber nicht aufrechterhalten werden gegenüber der Art, in welcher die Staatsmänner und die Presse der Entente der Welt die Meinung beizubringen suchen, daß sie trotz des Friedensangebotes der Mittelmächte gezwungen seien, den Krieg fortzusetzen. Unter den Gründen, die sie angeben, spielt der eine ganz besondere Rolle, daß der Kriegsanfang beweise, wie ein friedliches Zusammenleben mit den Mittelmächten nur durch einen vernichtenden Schlag der Entente gegen diese Mächte zu erreichen sei. Nun wird von Ruchti gezeigt, daß diese Behauptung auf einer unwahren Legende beruht, welche auf Seite der Entente gegen die Aussagen ihrer eigenen Urkunden geschmiedet worden ist, um der Welt die Ansicht beizubringen, die sie für gut befindet, ihr über Ausgang und Ziel des Krieges beizubringen. Gewiß, das von Ruchti als Ergebnis Vorgebrachte ist oft und in der verschiedensten Form schon gesagt worden. Aber das Bedeutsame seiner Schrift liegt erstens in seiner wissenschaftlichen Bearbeitung des Tatbestandes und zweitens darin, daß ein Angehöriger eines neutralen Staates seine Ergebnisse rückhaltlos mitteilt, und daß ein wissenschaftliches Seminar dieses Staates die Schrift für so den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechend findet, daß sie sie preiskrönt. Ruchti bleibt auch im Stil der wissenschaftliche Forscher, der nirgends über das hinausgeht, was die Quellen ergeben, ja, er macht nach Art eines solchen Forschers an den entsprechenden Stellen genau darauf aufmerksam, wo das Tatsachenmaterial unsicher wird und mit dem objektiven Urteil zurückgehalten werden muß. Er stützt sich fast ausschließlich auf englische Urkunden und verwendet die anderen Staaten nur zur Ergänzung dieser oder jener Tatsachendarstellung. Und er kommt durch diese Methode zu einem Ergebnis, das sich in folgende Worte zusammenfassen läßt. Die Behauptungen, durch welche die Staatsmänner der Entente die Welt überreden wollen, werden durch die englischen Urkunden als das Gegenteil der Wahrheit erkannt. Das ganze Gewebe von Behauptungen der Grey und Genossen über die Friedensbemühungen der Entente-Staatsmänner zerfällt vor der wissenschaftlichen Analyse Ruchtis und wird zu einem solchen, das nur den Schein von Friedensbestrebungen zeigt, das aber in Wirklichkeit nicht nur sicher zum Kriege zwischen Rußland und Frankreich einerseits und Deutschland und Österreich andererseits führen mußte, sondern auch England an die Seite der ersteren Mächte zu stellen geeignet war. Aus diesen Darlegungen geht hervor, wie Sasonow den Streitfall zwischen Österreich und Serbien zum Ausgangspunkt eines europäischen Konfliktes macht und wie Grey von vornherein diesen russischen Ausgangspunkt zu dem seinigen macht und von ihm aus seine sogenannten Friedensbemühungen einrichtet. Es ist nicht das geringste Zeugnis dafür vorhanden, daß Grey etwa in den Sinn gekommen sein könnte, seine diplomatischen Schritte so einzurichten, daß Rußland gezwungen gewesen wäre, Österreich seinen Streitfall mit Serbien allein ausfechten zu lassen. Da Österreich die Zusage gegeben hat, daß es mit seinen kriegerischen Maßnahmen gegen Serbien nichts anderes erreichen wolle, als die restlose Anerkennung seines Ultimatums und dieses nichts verlangte, als ein angemessenes Verhalten Serbiens gegenüber dem österreichischen Staate in seinen bisherigen Grenzen, so wäre ein Kriegsgrund für eine andere Macht nicht dagewesen, wenn Grey Rußland von der Einmischung in den österreichischserbischen Streit abgebracht hätte. Dadurch aber war England von vornherein der Bundesgenosse Rußlands und Gegner der Mittelmächte und Grey hatte eine Politik eingeleitet, die mit Notwendigkeit zu dem Kriege führen mußte in der Form, wie er dann zustande gekommen ist. Demgegenüber, was Grey getan hat, die Behauptung vertreten, nur weil Deutschland nicht gewollt habe, sei es ihm nicht gelungen, den Frieden aufrechtzuerhalten, entpuppt sich als eine verwerfliche Unwahrheit gerade deswegen, weil sie durch die Betonung einer ganz selbstverständlichen aber auch ganz bedeutungslosen Wahrheit so geeignet wie nur möglich ist, die Welt irrezuführen. Denn es ist gewiß klar, daß England, ja wohl auch Frankreich und sogar Rußland der Friede lieber gewesen wäre als der Krieg, wenn es ohne diesen auf diplomatischem Wege gegangen wäre, Deutschland und Österreich gegenüber der Entente zur politischen Bedeutungslosigkeit herabzudrücken und es dazu zu bringen, sich dem Machtwillen der Entente zu fügen. Nicht darauf kommt es an, ob Grey Frieden oder Krieg gewollt habe, sondern darauf, wie er sich zu den Ansprüchen derjenigen Mächte bei Kriegsausbruch gestellt hat, die im Kriege Englands Bundesgenossen sind. Und Ruchti beweist, daß Grey sich so gestellt hat, daß durch sein Verhalten der Krieg notwendig herbeigeführt werden mußte. Man wird hier gewiß zu den Beweisen Ruchtis hinzufügen dürfen, daß Grey selbst nicht zum Kriege drängen wollte, sondern daß er ein Schwächling ist, der zu seinen Schritten von anderen geschoben worden ist. Das aber ändert nichts an der geschichtlichen Beurteilung seiner Taten. Es gelingt Ruchti völlig zu beweisen, daß Greys diplomatische Schritte ihm nicht den geringsten Anspruch darauf geben, zu behaupten, er hätte etwas zur Verhinderung des Krieges getan. Es gelingt dem schweizerischen Geschichtsbetrachter aber auch, zu zeigen, daß die englischen Staatsmänner sich in den Verhandlungen mit Deutschland so verhalten haben, daß ihnen mit dem Neutralitätsbruch gegenüber Belgien ein Kriegsgrund dargeboten worden war, den sie hätten vermeiden können, wenn sie auf gewisse Anerbietungen Deutschlands eingegangen wären. Doch diesen Kriegsgrund brauchten sie, um ihrem Volke, das wegen Serbiens und wegen der europäischen Ansprüche Rußlands nicht zum Kriege wäre zu bringen gewesen, diesen annehmbar zu machen. Und zur Volksüberredung war auch eine Fälschung nötig, die Ruchti im englischen Weißbuch nachweist. Durch falsche Datierungen in einem Briefwechsel, den Grey geführt hat, sollte dem englischen Volke gezeigt werden, wie das friedliebende Frankreich von Deutschland überfallen worden sei. Durch die Fälschung von Daten wurde der Eindruck hervorgerufen, daß Deutschland viel früher Frankreich angegriffen habe, als dies wirklich der Fall gewesen ist. Dazu kommt, daß Asquith in seiner Kriegsrede vom 6. August 1914 mit dem gleichen Erfolge der Volkstäuschung maßgebende Verhandlungen mit Deutschland einfach verschwiegen hat. Durch sachliche Abwägung aller dieser Tatsachen bildet sich Ruchti ein Urteil, das ihn berechtigt, die sogenannte Friedensbemühung der englischen Staatsmänner als eine unwahrhaftige Legende hinzustellen und sogar bei ihnen die zum Kriege treibenden Kräfte aufzuzeigen. Am Schlusse spricht er die schwerwiegenden Worte aus: «Die Geschichte läßt sich auf die Dauer nicht fälschen, die Legende vermag vor der wissenschaftlichen Forschung nicht standzuhalten, das dunkle Gewebe wird ans Licht gebracht und zerrissen, auch wenn es noch so kunstvoll und fein gesponnen war.» Aber vorläufig sucht die Entente in diesem dunklen Gewebe noch eines der Mittel, um ihr dunkles Kriegshandwerk der Welt als eine Notwendigkeit der Zivilisation und der edelsten Menschlichkeit aufzuschwatzen.
An award-winning Academic work on the History of the Outbreak of War
"Neue Badische Landeszeitung" Mannheim, 62nd vol. no. 193, evening edition of April 17, 1917
[ 1 ] Within the vast body of war literature, Dr. Jacob Ruchti's "Zur Geschichte des Kriegsausbruches nach den amtlichen Akten der königlich großbritannischen Regierung", which was awarded a prize by the historical seminar at the University of Bern, is of particular value. This is because it contains an examination that is carried out according to the strict rules of historical research and that scientific conscientiousness that the historian seeks when he wants to form an opinion about factual contexts. What is usually only attempted in the academic world long after the events in question have taken place, Ruchti undertakes for the events of the immediate present. After examining his work, it must be said that a favorable judgment of its content, an appreciation of its results need not be the consequence of the point of view towards the causes of war that one takes according to one's ethnicity or similar causes, but that the author's factually satisfactory scientific method can lead to such an appreciation for those who are at all accessible to scientifically obtainable convictions.
[ 2 ] Now many people are of the opinion that a discussion of the causes of war has already become a fruitless matter. But such a view cannot be maintained in the face of the way in which the statesmen and the press of the Entente are trying to persuade the world that they are compelled to continue the war in spite of the peace offer of the Central Powers. Among the reasons they give, the fact that the beginning of the war proves that peaceful coexistence with the Central Powers can only be achieved through a devastating blow by the Entente against these powers plays a very special role. Now Ruchti shows that this assertion is based on an untrue legend, forged by the Entente against the statements of its own documents, in order to teach the world the view that it considers good to teach it about the outcome and aim of the war. Admittedly, Ruchti's conclusion has already been stated many times and in various forms. But the significance of his writing lies firstly in his scientific treatment of the facts, and secondly in the fact that a member of a neutral state unreservedly communicates his findings, and that a scientific seminar of this state finds the writing to be so in line with scientific requirements that it crowns it with a prize. Ruchti's style also remains that of a scientific researcher, who nowhere goes beyond what the sources reveal; indeed, in the manner of such a researcher, he draws attention at the appropriate points to exactly where the factual material becomes uncertain and objective judgment must be withheld. He relies almost exclusively on English documents and uses the other states only to supplement this or that factual account. And by this method he arrives at a result which may be summarized in the following words. The assertions by which the statesmen of the Entente seek to persuade the world are recognized by the English documents as the opposite of the truth. The whole fabric of assertions made by Grey and his comrades about the Entente statesmen's efforts for peace falls apart before Ruchti's scientific analysis and becomes one that shows only the appearance of peace efforts, but which in reality was not only bound to lead to war between Russia and France on the one hand and Germany and Austria on the other, but was also likely to place England on the side of the former powers. It is clear from these explanations how Sasonov makes the dispute between Austria and Serbia the starting point of a European conflict and how Grey makes this Russian starting point his own from the outset and establishes his so-called peace efforts from it. There is not the slightest evidence that it could have occurred to Grey to arrange his diplomatic steps in such a way that Russia would have been forced to let Austria fight out its dispute with Serbia alone. Since Austria had given the assurance that she intended to achieve nothing else by her warlike measures against Serbia than the complete recognition of her ultimatum, and this ultimatum demanded nothing but a reasonable attitude on the part of Serbia towards the Austrian state within its present boundaries, there would have been no reason for war for any other power if Grey had dissuaded Russia from interfering in the Austro-Serbian dispute. As a result, however, England was Russia's ally and opponent of the Central Powers from the outset, and Grey had initiated a policy that was bound to lead to the war in the form in which it came about. In contrast to what Grey did, the assertion that he did not succeed in maintaining peace only because Germany did not want it, turns out to be a reprehensible untruth precisely because it is as likely as possible to mislead the world by emphasizing a truth that is quite self-evident but also quite meaningless. For it is certainly clear that England, and indeed France and even Russia, would have preferred peace to war if it had not been possible to use diplomatic means to reduce Germany and Austria to political insignificance vis-à-vis the Entente and make them submit to the Entente's will to power. It is not a question of whether Grey wanted peace or war, but of his attitude to the claims of those powers at the outbreak of war which were England's allies in the war. And Ruchti proves that Grey's position was such that war was necessarily brought about by his behavior. One may certainly add to Ruchti's evidence that Grey himself did not want to push for war, but that he was a weakling who was pushed to his steps by others. However, this does not alter the historical assessment of his actions. Ruchti succeeds completely in proving that Grey's diplomatic steps do not give him the slightest right to claim that he did anything to prevent the war. But the Swiss historian also succeeds in showing that the English statesmen behaved in such a way in the negotiations with Germany that they had been offered a reason for war by breaking neutrality towards Belgium, which they could have avoided if they had accepted certain offers from Germany. But they needed this reason for war in order to make it acceptable to their people, who could not have been persuaded to go to war because of Serbia and Russia's European claims. And a forgery was also necessary to persuade the people, as Ruchti proves in the English White Book. False dates in a correspondence that Grey had conducted were intended to show the English people how peace-loving France had been invaded by Germany. By falsifying dates, the impression was created that Germany had attacked France much earlier than was actually the case. In addition, in his war speech of August 6, 1914, Asquith simply concealed decisive negotiations with Germany with the same success of deceiving the people. By objectively weighing up all these facts, Ruchti forms a judgment that entitles him to present the so-called peace efforts of the English statesmen as an untrue legend and even to point out the forces driving them to war. At the end he utters the grave words: "History cannot be falsified in the long run, the legend cannot stand up to scientific research, the dark fabric will be brought to light and torn apart, no matter how artfully and finely it was woven." But for the time being, the Entente is still seeking in this dark fabric one of the means to foist its dark craft of war on the world as a necessity of civilization and the noblest humanity.