Essays on Anthroposophy from the Journals “Lucifer” and “Lucifer-Gnosis” 1903-1908
GA 34
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51. Herder and Theosophy
On December 18, 1903, the anniversary of the death of Johann Gottfried Herder was celebrated throughout the educated world. In connection with this commemoration, the editor of this journal, Dr. Rudolf Steiner, gave a lecture on “Herder and Theosophy” in Weimar on January 15, which was intended to show how a deepening into Herder's creations could be a school for the theosophical worldview, if this spirit is no longer viewed from a merely one-sided literary-historical point of view, but rather from the high perspectives that can be found in it. A report of the lecture (from the Weimar newspaper “Deutschland”) will follow here:
If Theosophy – said the speaker – wants to lay claim to truth and value for people, then it cannot be a spiritual movement that has come to us in recent years as if from the clouds; rather, it must correspond to a comprehensive human need; and it must be possible to prove that the ideals of the spiritual heroes of all times more or less agree with it. Herder is one of those personalities in modern intellectual history whose whole attitude and way of thinking can be called theosophical. From his earliest youth, he did not live in the writings of the Christian faith like someone seeking teachings and dogmas, but like someone who actually wants to connect with the world spirit, who seeks not only intellectual knowledge but also the real development of the soul. But anyone who, like him, seeks not mere science but wisdom is theosophical. In the Age of Enlightenment, during which Herder spent his youth, there was little of such a disposition in the leading circles. It lived only in individuals. In the Magus of the North, in Hamann, whom he encountered in Königsberg, Herder found a companion of his outlook. For the apostle of the Enlightenment, only the personality of the human being and the judgment of reason that comes from the power of this personality applied. For Herder, on the other hand, this personality could only mean something insofar as the general world spirit reveals itself as a genius in it. So it is easy to understand how Herder came to hold the folk song in such high esteem. The man of the Enlightenment says: true poetry can only be produced through the higher education of the personality, for he has no belief in the genius that lies beyond the personality, because he has no conception of the living spirit. For Herder, man was an organ, an instrument of the real, supra-personal spirit; he sought the living folk spirit in the people. It was through this belief that he came to a true understanding of Shakespeare. And it was through this belief that Herder influenced Goethe, whom he met in Strasbourg. For Goethe's great scientific ideas did not arise without inspiration from Herder, and they too arose from a genuine theosophical way of thinking. The lecturer explained in detail how references to the theosophical basic views can be found throughout Herder's most important works. The idea that it is not human arbitrariness but the real, supra-personal spirit that guides the development of humanity is already clearly evident in the essay “A Philosophy of the History of Humanity”. In his work “The Oldest Document of the Human Race,” Herder already understands the Old Testament from the point of view that Theosophy also adopts. For his concept of the “primal revelation” by the spirit is entirely Theosophical. The same must also be said of his position in relation to the New Testament. Because he has recognized the spirit, access has also been opened to him to the most spiritual writings of Christianity, to the Gospel of John and the “Secret Revelation.” And one must return again and again to the greatest work of Herder, his “Ideas for a Philosophy of the History of Humanity,” if one wants to read something that clarifies the universal destiny of the human spirit in an idea-appropriate way. Anyone who understands what Herder says here about the eternal transformation of natural forms and the eternal preservation of spiritual forces stands, with a lofty conception of immortality, directly before the entrance doors of the theosophical world view. For in The Ideas, Herder has transformed a comprehensive scientific insight into genuine gold of wisdom in the truest sense of the word, leading the human soul to where its home is, where it first understands the profound words of Goethe: “The spirit world is not closed; your mind is closed, your heart is dead.” Herder's importance for his time, on which he had an influence that is still far from sufficiently appreciated, lies in his attitude, in his belief in the living spirit; and therein also lies the lasting value of his work for the future.
51. Herder und die Theosophie
Am 18. Dezember 1903 wurde in der ganzen gebildeten Welt der Todestag Johann Gottfried Herders gefeiert. In Anknüpfung an diese Erinnerungsfeier hielt der Herausgeber dieser Zeitschrift, Dr. Rudolf Steiner, am 15. Januar in Weimar einen Vortrag über «Herder und die Theosophie», der zeigen sollte, wie gerade die Vertiefung in Herders Schöpfungen eine Schule zur theosophischen Weltanschauung sein könne, wenn dieser Geist nicht mehr nach bloß einseitig literargeschichtlichen Gesichtspunkten, sondern nach den hohen Ausblicken hin betrachtet wird, die bei ihm zu finden sind. Hier soll ein Bericht über den Vortrag (nach der in Weimar erscheinenden Zeitung «Deutschland») folgen:
Wenn die Theosophie — sagte der Redner — Anspruch auf Wahrheit und Wert für die Menschen machen wolle, so könne sie nicht eine Geistesströmung sein, die in den letzten Jahren, wie aus den Wolken, zu uns gekommen ist; sondern sie muß einem umfassenden menschlichen Bedürfnisse entsprechen; und es muß sich nachweisen lassen, daß die Ideale der Geisteshelden aller Zeiten mehr oder weniger mit ihr übereinstimmen. Zu den Persönlichkeiten der neueren Geistesgeschichte, deren ganze Gesinnung und Vorstellungsart theosophisch genannt werden muß, gehört Herder. Von frühester Jugend an lebt er in den Schriften des christlichen Bekenntnisses nicht wie jemand, der Lehren und Dogmen sucht, sondern wie ein solcher, der sich tatsächlich mit dem Weltgeiste verbinden will, der nicht verstandesmäßige Erkenntnis allein, sondern wirkliche Höherentwickelung der Seele anstrebt. Wer aber, wie er, nicht bloße Wissenschaft, sondern Weisheit sucht, der ist theosophisch gesinnt. In dem Zeitalter der Aufklärung, in das Herders Jugend fällt, war in tonangebenden Kreisen von solcher Gesinnung wenig vorhanden. Nur in einzelnen lebte sie. In dem Magus des Nordens, in Hamann, dem er in Königsberg nahetrat, fand Herder einen Genossen seiner Anschauungsweise. Für den Bekenner der Aufklärung galt allein die Persönlichkeit des Menschen und das Verstandesurteil, das aus der Kraft dieser Persönlichkeit kommt. Für Herder konnte dagegen diese Persönlichkeit nur etwas bedeuten, insofern sich der allgemeine Weltgeist in ihr als Genius offenbart. So versteht man, wie Herder zu seiner hohen Schätzung des Volksliedes kam. Der Aufklärer sagt: nur durch die höhere Bildung der Persönlichkeit kann wahre Poesie hervorgebracht werden, denn er hat keinen Glauben an den Genius, der über der Persönlichkeit liegt, weil er keine Vorstellung von dem lebendigen Geiste hat. Für Herder war der Mensch ein Organ, ein Werkzeug des wirklichen überpersönlichen Geistes; er suchte im Volke den lebendigen Volksgeist. Durch diesen seinen Glauben kam er auch zum wahren Verständnis Shakespeares. Und Herder wirkte durch diese seine Gesinnung auf Goethe, mit dem er in Straßburg zusammentraf. Denn Goethes große naturwissenschaftliche Ideen sind nicht ohne Anregung von Herders Seite entstanden, und auch sie sind aus echter theosophischer Vorstellungsart heraus entsprungen. — Der Vortragende legte im einzelnen dar, wie in Herders bedeutendsten Werken überall der Hinweis auf die theosophischen Grundanschauungen zu finden sei. Die Idee, daß nicht menschliche Willkür, sondern der wirkliche, überpersönliche Geist die Entwickelung der Menschheit führe, tritt bereits in der Schrift «Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit» klar hervor. In dem Werke «Älteste Urkunde des Menschengeschlechts» wird von Herder das Alte Testament bereits von dem Gesichtspunkt verstanden, den auch die Theosophie zu dem ihrigen macht. Denn sein Begriff der «Uroffenbarung» durch den Geist ist ganz theosophisch. Auch von seiner Stellung zum Neuen Testament muß dasselbe gesagt werden. Weil er den Geist erkannt hat, ist ihm auch der Zugang eröffnet worden zu den geistigsten Schriften des Christentums, zum JohannesEvangelium und der «Geheimen Offenbarung». — Und zu dem größten Werke Herders, seinen «Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit» muß man immer wieder zurückkehren, wenn man etwas lesen will, was in einer ideengemäßen Weise des Menschengeistes universelle Bestimmung klarlegt. Wer versteht, was Herder hier über die ewige Verwandlung der Naturformen und die ewige Erhaltung der geistigen Kräfte sagt, der steht mit einer erhabenen Unsterblichkeitsauffassung unmittelbar vor den Einlaßtüren der theosophischen Weltanschauung. Denn in den «Ideen» hat Herder im wahrsten Sinne des Wortes eine umfassende wissenschaftliche Erkenntnis in echtes Gold der Weisheit verwandelt, welche die Menschenseele dahin führt, wo ihre Heimat ist, wo sie erst versteht das tiefe Wort Goethes: «Die Geisterwelt ist nicht verschlossen; dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot.» In seiner Gesinnung, in seinem Glauben an den lebendigen Geist liegt Herders Bedeutung für seine Zeit, auf die er einen noch lange nicht genug gewürdigten Einfluß genommen hat; und darin liegt auch der bleibende Wert seiner Geistestat für die Zukunft.