Collected Essays on Literature 1884-1902
GA 32
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51. Literature And Society In The Nineteenth Century by S. Lublinski
Volumes XI1, XII, XVI and XVII of the collection «Am Ende des Jahrhunderts. Rückschau auf 100 Jahre geistiger Entwickelung.» Berlin, S. Cronbach
The author of this book has set himself an important task. He wants to present the literary phenomena of the nineteenth century in their context with social life. There is little preparatory work for such a task. Literary historians have so far regarded literature as a world in itself. They sought methods to create scientific order in this world. But they did not consider that this world is connected with the whole of social life. Lublinski is deeply convinced that only those who have an eye for the whole of life understand what is happening in the world of poetry. He traces the threads that connect literature with life, from economic phenomena on the one hand to philosophical currents of thought on the other. It must be admitted that Lublinski's attempt to treat the chapter “Literature and Society” as part of cultural history has been surprisingly successful. What is usually disturbing about works of this kind is that their authors have something individual to say only about one or the other, and that for the rest they lead us through broad areas in which we can only admire the skill with which they apply their “method” to a subject that is indifferent to them. One cannot absolve Georg Brandes, the ingenious interpreter of the literary “main currents of the nineteenth century”, of this fault. For example, he has said things about German Romanticism that only he could say in this way. But he has also applied the method, which reveals the psychology of Romanticism in a magnificent way, to “Young Germany”. There it fails. Lublinski cannot be accused of such a thing. He does not have such a one-sided, universal method. Because he regards literature as only one element of the whole of culture, he always finds the point from which a literary phenomenon can be viewed within the whole context of life. It can be said of him that he has a unique method for every phenomenon. For example, he does full justice to the individual personality when this really has the driving element in itself and in [its] individual development; and he then sheds the right light on the “milieu” when the personality is only the expression of certain trends of the times. The characterizations of Heinrich von Kleist, Heine, Friedrich Hebbel and the depictions of the milieu in the chapters “Intellectual Structure of Germany around 1800”, “The Audience”, “Tendencies of Young Germany”, “The Silver Age of German Literature” and “The Bourgeoisie” are particularly successful. A highlight of the entire work is the description of Gutzkow. It cannot be denied that many literary phenomena can only be seen in their true light if one follows the lines that Lublinski has indicated so far. It is in the nature of things that one can object to much in the book. One often has the feeling that a path has only just begun and that a considerable distance still needs to be covered if a reasonably certain result is to be achieved, where we now encounter a mere assumption. But that cannot be otherwise. Lublinski has set himself a task that probably cannot be fully solved even if three or four decades are spent on it. It is therefore all the more commendable that he has achieved what he has. We need books like this, which, while not conclusive, are highly stimulating. There are certainly many literary historians in Germany who have a broader knowledge than Lublinski; but there are few who have such a comprehensive education as he; and there is no one so far who would know how to combine all branches of the sociological structure in the sense of the modern scientific way of thinking as he does. Compare Lublinski's book with that of a mere aesthete, such as Rudolf von Gottschall's “Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts”. Gottschall also ventures beyond the realm of fine literature. But he is only interested in philosophical and, to a lesser extent, political currents; however, he is only interested in these to the extent that the aesthete speaks of them. The aesthetic judgment becomes sovereign in the intellectual organism of such personalities. For Lublinski, the aesthetic judgment is only a part of his overall evaluation of things. He is not only concerned with whether a work of art is significant or insignificant. For him, the real problem only begins at the moment when he has finished with the aesthetic value judgment. Then he asks himself: why was it possible for a significant work to be created in a certain period and by a certain personality? One would not be wrong to claim that Lublinski has significantly deepened the problems of literary history through his questioning.
51. Literatur Und Gesellschaft Im Neunzehnten Jahrhundert von S. Lublinski
Band XI1, XII, XVI und XVII des Sammelwerkes «Am Ende des Jahrhunderts. Rückschau auf 100 Jahre geistiger Entwickelung.» Berlin, S. Cronbach
Der Verfasser dieses Buches hat sich eine bedeutende Aufgabe gestellt. Er will die literarischen Erscheinungen des neunzehnten Jahrhunderts in ihrem Zusammenhange mit dem gesellschaftlichen Leben darstellen. Für eine solche Aufgabe gibt es wenig Vorarbeiten. Die Literarhistoriker betrachteten bisher die Literatur als eine Welt für sich. Sie suchten nach Methoden, um in dieser Welt wissenschaftlich Ordnung zu schaffen. Dass aber diese Welt mit dem ganzen sozialen Leben zusammenhängt: das berücksichtigten sie nicht. Lublinski ist tief durchdrungen von der Überzeugung, dass nur derjenige versteht, was in der Welt der Dichtung vorgeht, der ein Auge hat für das ganze Leben. Bis in die wirtschaftlichen Erscheinungen auf der einen Seite und bis in die philosophischen Gedankenströmungen auf der anderen Seite verfolgt er die Fäden, welche die Literatur mit dem Leben verbinden. Man muss zugestehen, dass der Versuch, den Lublinski macht, das Kapitel «Literatur und Gesellschaft» als einen Teil der Kulturgeschichte zu behandeln, in überraschend guter Weise gelungen ist. Was bei Werken dieser Art zumeist störend wirkt, ist, dass ihre Verfasser nur über das eine oder das andere etwas Individuelles zu sagen haben und dass sie uns im Übrigen über weite Gebiete führen, auf denen wir nur die Geschicklichkeit bewundern dürfen, mit der sie ihre «Methode» auf einen ihnen gleichgiltigen Gegenstand anwenden. Man kann Georg Brandes, den geistreichen Darsteller der literarischen «Hauptströmungen des neunzehnten Jahrhunderts», von diesem Fehler nicht freisprechen. Er hat zum Beispiel über die deutsche Romantik Dinge vorgebracht, die nur er in dieser Weise sagen konnte. Aber er hat die Methode, durch welche die Psychologie der Romantik in prächtiger Weise bloßgelegt wird, auch auf das «Junge Deutschland» angewandt. Da versagt sie. Lublinski kann ein solcher Vorwurf nicht gemacht werden. Er hat eine solche einseitige Allerwelts-Methode nicht. Weil er die Literatur nur als ein Glied der ganzen Kultur betrachtet, findet er innerhalb des ganzen Umkreises des Lebens immer den Punkt, von dem aus eine literarische Erscheinung anzusehen ist. Man darf von ihm sagen: er hat für jede Erscheinung eine eigene Methode. Er wird zum Beispiel der einzelnen Persönlichkeit vollkommen gerecht, wenn diese wirklich das treibende Element vorzüglich in sich selbst und in [ihrer] individuellen Entwickelung hat; und er lässt auf das «Milieu» dann das rechte Licht fallen, wenn die Persönlichkeit nur der Ausdruck gewisser Zeitströmungen ist. Besonders gelungen sind die Charakteristiken von Heinrich von Kleist, Heine, Friedrich Hebbel und die Milieudarstellungen in den Kapiteln: «Geistige Struktur Deutschlands um 1800», «Das Publikum», «Tendenzen des Jungen Deutschland», «Das silberne Zeitalter der deutschen Literatur», «Das Bürgertum». Ein Glanzpunkt des ganzen Werkes ist die Schilderung Gutzkows. Es ist nicht zu leugnen, dass viele literarische Erscheinungen in ihrem rechten Lichte nur erscheinen können, wenn man die Linien weiter verfolgt, die Lublinski vorläufig angedeutet hat. Es liegt in der Natur der Sache, dass man gegen vieles in dem Buche Einwendungen machen kann. Man hat oft das Gefühl, dass ein Weg gerade erst begonnen ist, und dass noch eine erhebliche Strecke zurückgelegt werden müsste, wenn ein einigermaßen sicheres Ergebnis dastehen sollte, wo wir jetzt eine bloße Vermutung antreffen. Allein das kann nicht anders sein. Lublinski hat sich eine Aufgabe gestellt, die man wahrscheinlich nicht einmal dann vollkommen lösen kann, wenn man drei bis vier Jahrzehnte zu ihrer Bewältigung verwendet. Dankenswert ist es deshalb doch, dass er geleistet hat, was vorliegt. Wir brauchen solche Bücher, die zwar nicht abschließend, dafür aber im höchsten Grade anregend sind. Es gibt gewiss manchen Literarhistoriker in Deutschland, der ausgebreitetere Kenntnisse hat als Lublinski; es gibt aber wenige, die eine solch umfassende Bildung haben wie er; und es gibt bis jetzt keinen, der alle Zweige der soziologischen Struktur im Sinne der modern naturwissenschaftlichen Denkungsweise so zu verbinden wüsste wie er. Man stelle neben Lublinskis Buch das eines bloßen Schöngeistes, wie Rudolf von Gottschalls «Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts». Auch Gottschall macht seine Streifzüge über das Gebiet der schönen Literatur hinaus. Aber ihn interessieren doch nur die philosophischen und etwa noch die politischen Strömungen; auch sie interessieren ihn jedoch nur soweit, als der Schöngeist von ihnen spricht. Das ästhetische Urteil wird im Geistesorganismus solcher Persönlichkeiten souverän. Bei Lublinski ist die ästhetische Beurteilung nur ein Teil seiner Gesamtwertung der Dinge. Ihn geht nicht nur an, ob ein Kunstwerk bedeutend oder unbedeutend ist. Für ihn beginnt das eigentliche Problem erst in dem Augenblicke, in dem er mit dem ästhetischen Werturteile fertig ist. Dann frägt er sich: warum konnte in einer bestimmten Zeit und von einer gewissen Persönlichkeit ein bedeutendes Werk geschaffen werden? Man wird nicht fehl gehen, wenn man behauptet, dass Lublinski durch seine Fragestellung die literarhistorischen Probleme wesentlich vertieft hat.