Collected Essays on Philosophy, Science, Aesthetics and Psychology 1884–1901
GA 30
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43. Ernst Melzer - Goethe's Philosophical Development
A contribution to the history of the philosophy of our poet heroes Neisse 1884
It is no coincidence that at the end of the last century and the beginning of this one, philosophy and poetry experienced a tremendous upswing in Germany at the same time. There was a deepening of the whole essence of the nation, and it was one and the same message that was proclaimed by both philosophers and poets. German philosophy and German poetry of the classical period flowed from one spiritual direction. This explains why our greatest poets: Lessing, Herder, Schiller, Goethe, also felt the urge to deal with the deepest questions of science. They are not merely accomplished artists, they are perfect human beings in the highest sense of the word. This explains why, in addition to the writings devoted to the contemplation of the artistic creations of our classics, the writings devoted to their philosophical thoughts are constantly increasing. The above-mentioned book deals with Goethe's philosophical development.
The spirit in whose work the various forms of the German national spirit have united to form the most beautiful harmony is Goethe. Artistic creative power and scientific insight into the driving forces of nature and the human spirit are the elements that have flowed into the essence of this spirit, but in such a way that they have given up their separate existence and become a unified whole, an individuality that both broadens and deepens our world view. Only when viewed in this way does the role that philosophy plays in the organism of Goethe's spirit become clear. A treatise on Goethe's philosophical development would have to show the extent to which philosophy is, firstly, an active force in his artistic work and, secondly, a foundation supporting his scientific experiments. From the aphoristic statements about his world view alone we cannot gain a picture of it, even if they are often clarifying and complementary to it. If we apply what has been said to Melzer's book, we must admit that the author has not recognized the crucial points of the matter. We do not want to overlook some of the good points of his book. These include, above all, the basic tendency of the book to recognize Goethe not from individual statements but from the course of his development (8.3). But if, despite this tendency (p. 36), the author finds, for example, that Goethe's philosophical-religious view at the end of his youthful period was a kind of middle ground between rationalism and orthodoxy, this shows how little he sees what is actually important. Buzzwords such as naturalism, rationalism and pantheism do not lead us into Goethe's mind; they only obstruct our access to the depths of his being. For Melzer, this is why the fully determined, individual aspect of Goethe's world view is lost. Thus he sees the quintessence of the essay "Nature" (p.24) in the sentence: "it (nature) is everything" and consequently defines Goethe's view as naturalism. But while naturalism sees nature only in its finished products, as dead, self-contained, and in this form identifies the spirit with it, Goethe goes back to it as producer, as creative, and thus advances beyond contingency to necessity. He thus reaches that source from which spirit and nature flow simultaneously and can truly say of it: "it is everything." Goethe had something to proclaim to the world that could not be encompassed by any traditional system of thought, still less expressed in traditional philosophical terms. There was in him a world of original ideas, and when one speaks of the influence of older or newer philosophers on him, this cannot be done in the sense - as Melzer does - as if he had formed his views on the basis of their teachings. He was looking for formulas, a scientific language to express the spiritual wealth that lay within him. He found these in the philosophers, above all in Spinoza. Melzer shares the mistake of wanting to portray Goethe's world of ideas as the result of various teachings he had absorbed with many others who have studied the philosophy underlying Goethe's work. This overlooks the fact that anyone who wants to portray Goethe's philosophical development must have gained a belief in the originality of his mission and the genius of his being primarily from his work.
Ernst Melzer - Goethes Philosophische Entwicklung
Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie unserer Dichterheroen Neiße 1884
Daß am Ende des vorigen und am Anfange dieses Jahrhunderts in Deutschland Philosophie und Dichtung gleichzeitig einen gewaltigen Aufschwung erlebten, ist kein zufälliges Zusammentreffen. Es fand eine Vertiefung des ganzen Wesens der Nation statt, und es war eine und dieselbe Botschaft, die von Philosophen sowohl als von Dichtern verkündet wurde. Die deutsche Philosophie und die deutsche Dichtung der klassischen Periode fließen aus einer Geistestichtung. Daraus erklärt es sich, warum unsere größten Dichter: Lessing, Herder, Schiller, Goethe, auch den Drang fühlten, sich mit den tiefsten Fragen der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Sie sind nicht bloß vollendete Künstler, sie sind vo//endete Menschen im höchsten Sinne des Wortes. Daß neben den der Betrachtung der Kunstschöpfungen unserer Klassiker gewidmerten Schriften auch die ihren philosophischen Gedankenkreisen zugewendeten stets zunehmen, ist hieraus erklärlich. Das obengenannte Buch behandelt die philosophische Entwickelung Goethes.
Der Geist, in dessen Schaffen die verschiedenen Ausgestaltungen des deutschen Volksgeistes sich zu der schönsten Harmonie vereinigt haben, ist Goethe. Künstlerische Gestaltungskraft und wissenschaftlicher Einblick in die Triebkräfte der Natur und des Menschengeistes sind die Elemente, die in das Wesen dieses Geistes eingeflossen, jedoch so, daß sie ihr Sonderdasein aufgegeben haben und zu einem einheitlichen Ganzen, zu einer unsere Weltanschauung zugleich erweiternden und vertiefenden Individualität wurden. Nur so betrachtet wird die Rolle klar, die die Philosophie in dem Organismus des Goetheschen Geistes spielt. Eine Schrift über Goethes philosophische Entwickelung müßte zeigen, inwiefern die Philosophie erstens eine bei seinem künstlerischen Schaffen mittätige Kraft und zweitens eine seine wissenschaftlichen Versuche stützende Grundlage ist. Aus den aphoristischen Äußerungen über seine Weltanschauung allein können wir kein Bild derselben gewinnen, wenn sie auch vielfach klärend und ergänzend für dasselbe sind. Wenden wir das Gesagte auf Melzers Buch an, so müssen wir gestehen, daß der Verfasser die springenden Punkte der Sache nicht erkannt hat. Wir möchten dabei manches Gute seines Buches nicht übersehen. Es gehört dazu vor allem die Grundtendenz desselben, Goethe nicht aus einzelnen Äußerungen, sondern aus dem Gange seiner Entwickelung zu erkennen (8.3). Wenn aber der Verfasser trotz dieser Tendenz (S.36) zum Beispiel findet, daß Goethes philosophisch-religiöse Ansicht am Ende seiner Jugendperiode eine Art Mittelding zwischen Rationalismus und Orthodoxie sei, so zeigt das, wie wenig er sieht, worauf es eigentlich ankommt. Schlagworte, wie Naturalismus, Rationalismus, Pantheismus, führen uns in Goethes Geist einmal nicht hinein; sie verlegen uns nur den Zugang in die Tiefe seines Wesens. Deshalb geht für Melzer auch das Vollbestimmte, Individuelle der Goetheschen Weltanschauung verloren. So sieht er die Quintessenz des Aufsatzes «Die Natur» (S.24) in dem Satze: «sie (die Natur) ist alles» und definiert demzufolge Goethes Ansicht als Naturalismus. Während aber der Naturalismus die Natur nur in ihren fertigen Produkten sieht, als tote, abgeschlossene, und in dieser Gestalt den Geist mit ihr identifiziert, geht Goethe auf sie als Produzentin, als schöpferische, zurück und dringt so über die Zufälligkeit zur Notwendigkeit vor. Er erreicht damit jene Quelle, aus der Geist und Natur zugleich fließen und kann von dieser wirklich sagen: «sie ıst alles.» Goethe hatte der Welt etwas zu verkünden, was sich mit keinem überlieferten Gedankengebäude umspannen, noch weniger mit den hergebrachten philosophischen Kunstausdrücken aussprechen läßt. Es lag in ihm eine Welt von ursprünglichen Ideen, und wenn von dem Einfluß älterer oder neuerer Philosophen auf ihn gesprochen wird, so kann das nicht in dem Sinne geschehen — wie es Melzer tut —, als ob er auf Grund von deren Lehren seine Ansichten gebildet habe. Er suchte Formeln, eine wissenschaftliche Sprache, um den in ihm liegenden geistigen Reichtum auszusprechen. Diese fand er bei den Philosophen, vornehmlich bei Spinoza. Den Fehler, Goethes Ideenwelt als das Resultat verschiedener von ihm aufgenommener Lehren darstellen zu wollen, teilt Melzer mit vielen, die sich mit der dem Goetheschen Schaffen zugrunde liegenden Philosophie beschäftigt haben. Es wird dabei übersehen, daß, wer Goethes philosophische Entwickelung darstellen will, vor allem aus dessen Wirken den Glauben an die Ursprünglichkeit seiner Sendung und die Genialität seines Wesens gewonnen haben muß.