Collected Essays on Philosophy, Science, Aesthetics and Psychology 1884–1901
GA 30
Automated Translation
39. Herman Grimm
Died on June 16, 1901
Herman Grimm died on June 16. Those who appreciated the nature of his spirit were overcome with the feeling at the news of his passing that with him one of the personalities has departed from us to whom those who have traveled their educational path in the last third of the past century owe unspeakable things. For us, he was a living link to the age of Goethe. Those who follow us will have no contemporaries who know how to talk about Goethe like Herman Grimm. Even though he was only four years old when Goethe himself died, Herman Grimm can be spoken of as a contemporary of Goethe. He was Bettina's son-in-law, who was completely absorbed in Goethe's world of ideas and of whom we have the beautiful book "Goethe's Correspondence with a Child". And Herman Grimm himself was completely at home within a world of ideas that drew its nourishment from a direct personal relationship with Goethe. He judged all things from this world of ideas, not just Goethe himself. The way he wrote his books about Michelangelo and Raphael could only be written by a man who stood by Goethe like Herman Grimm. One will also be able to judge these geniuses differently, and one will have to judge them differently from other perspectives on art and other needs of the time. But hardly any age will be able to come closer to them in their way of understanding than that of Goethe. The fact that they are written in the spirit of Goethe's age will forever give Herman Grimm's works an incomparable value.
Those who knew Herman Grimm personally felt to the highest degree as if Goethe himself were still speaking to them indirectly through this man. - This impression was also shared by those whose personal contact with Herman Grimm was as brief as that of the writer of these lines. I often think of the wonderful hours I was able to spend with him in Weimar. I have a particularly vivid memory of a conversation I had with him alone when he once asked me to join him for lunch in a Weimar hotel. He spoke of his History of the German Imagination as a work in which he summarized what he had thought about the development of the German people. How well he knew how to point to the characteristic passages in which the cultural content of an age was concentrated as if in focal points. One might think more or less differently about something than he did: the feeling that his point of view was in some way justified and highly significant and fruitful struck one in a flash with each of his remarks. I am of the opinion that nothing could make one see the true nature of German culture in the second third of the nineteenth century as clearly as hearing personalities like Herman Grimm speak. I got to know another man for whom something similar was true, my highly esteemed teacher Karl Julius Schröer. He died a few months ago in Vienna. It is my heartfelt wish to soon paint a picture of this misunderstood personality as it lives in my soul. In a somewhat different way from Herman Grimm, he too lived entirely in Goethe's way of thinking. It is in the nature of our age that those who are only eight or ten years younger than my contemporaries have to form a completely different picture of such personalities than we do. In a certain sense, Herman Grimm was far removed from the basic needs of our time. The social disturbances of our day were beyond his understanding, and the views of Darwin and Haeckel must have always made him feel shivery. But precisely for this reason - as paradoxical as it may seem at first glance to say so - his book on Goethe is a historical document like no other. No one will be able to write about Goethe like this again. Not our contemporary culture and no future culture will make that possible. Goethe's generation had to be followed by a generation that still had so much of Goethe that it was able to hold on to his image unperturbed by everything that followed. Herman Grimm belonged to this generation. Whatever else is said about Goethe, Grimm's "Goethe" cannot be overtaken. No one will ever be able to feel about Goethe the way he did; but it was in these feelings about Goethe that the age of Goethe was fully realized.
Those who call themselves scholars in the "true sense" did not want to count Herman Grimm among their number. They denied him the "strict method". He was allowed to smile about it. He did not want to be compared with these "scholars" and did not want to be counted among them. He knew too well what the "method" was all about. It is mostly a crutch for all those who cannot walk on their own two feet due to a lack of personal strength and who get nowhere by their own efforts. He knew that only those who "have nothing but method" can deny him method. His conviction was: "The personality of the individual within his limited circle will always remain the valuable thing."
Herman Grimm
Gestorben am 16. Juni 1901
Den 16. Juni ist Herman Grimm gestorben. Wer die Art seines Geistes zu schätzen wußte, den überkam bei der Nachricht von seinem Hingange das Gefühl, mit ihm ist eine der Persönlichkeiten von uns geschieden, denen die, welche ihren Bildungsweg im letzten Drittel des abgelaufenen Jahrhunderts zurückgelegt haben, Unsagbares verdanken. Er war für uns die lebendige Vermittlung mit dem Zeitalter Goethes. Die uns nachfolgen, werden keine Zeitgenossen haben, die so über Goethe zu sprechen wissen wie Herman Grimm. Wenn er auch bei Goethes Tode selbst erst vier Lebensjahre zählte, so darf man doch von Herman Grimm wie von einem Zeitgenossen Goethes sprechen. Er war der Schwiegersohn Bettinas, die ganz in Goethes Ideenwelt aufging und von der wir das schöne Buch haben «Goethes Briefwechsel mit einem Kinde». Und Herman Grimm selbst war ganz heimisch innerhalb einer Vorstellungswelt, die ihre Nahrung aus einem unmittelbaren persönlichen Verhältnis zu Goethe sog. Aus dieser Vorstellungsart urteilte er über alle Dinge, nicht nur über Goethe selbst. Wie er seine Bücher über Michelangelo, über Raphael schrieb, so konnte sie nur ein Mann schreiben, der zu Goethe stand wie Herman Grimm. Man wird auch anders über diese Genien urteilen können, und man wird von anderen Kunstperspektiven und anderen Zeitbedürfnissen heraus anders urteilen müssen. Aber näher in der Auffassungsweise wird ihnen kaum ein Zeitalter kommen können als dasjenige Goethes. Daß sie in der Auffassung des GoetheZeitalters geschrieben sind, das wird Herman Grimms Werken für immer einen unvergleichlichen Wert geben.
Wer Herman Grimm persönlich kannte, hatte im höchsten Maße die Empfindung, wie wenn durch diesen Mann noch Goethe selbst mittelbar zu ihm spräche. — Diesen Eindruck hatte auch der, dessen persönlicher Verkehr mit Herman Grimm sich über so kurze Zeiträume beläuft wie der des Schreibers dieser Zeilen. Ich denke oft an schöne Stunden, die ich in Weimar mit ihm verbringen durfte. Besonders lebhaft schwebt mir eine Unterredung vor, die ich mit ihm allein hatte, als er mich einmal aufforderte, in einem Weimarer Hotel an seinem Mittagsmahle teilzunehmen. Er sprach von seiner Geschichte der deutschen Phantasie als von einem Werke, in dem sich ihm zusammenfaßte, was er über den Entwickelungsgang des deutschen Volkes gedacht hatte. Wie wußte er doch auf die charakteristischen Stellen zu deuten, in denen sich der Kulturgehalt einer Zeit wie in Brennpunkten sammelte. Man mochte selbst über irgend etwas mehr oder weniger anders denken wie er: blitzschnell befiel einem bei jeder seiner Ausführungen die Empfindung, daß sein Gesichtspunkt in irgendeiner Weise berechtigt und im höchsten Maße bedeutend und fruchtbar sei. Ich bin der Meinung, daß man durch nichts die eigentliche Art der deutschen Kultur im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts so vor seinen Augen sehen konnte, wie wenn man Persönlichkeiten wie Herman Grimm sprechen hörte. Ich habe noch einen Mann kennengelernt, bei dem Ähnliches zutraf, meinen hochverehrten Lehrer Karl Julius Schröer. Er ist vor einigen Monaten in Wien gestorben. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, bald das Bild dieser so verkannten Persönlichkeit, wie es in meiner Seele lebt, zu zeichnen. In etwas anderer Art als Herman Grimm lebte auch er ganz in der Vorstellungsart Goethes. Es liegt in der Natur unseres Zeitalters, daß diejenigen, die nur um acht oder zehn Jahre jünger sind als meine Altersgenossen, ein ganz anderes Bild sich von solchen Persönlichkeiten machen müssen als wir. Im gewissen Sinne stand Herman Grimm den Grundbedürfnissen unserer Zeit ganz fern. Die sozialen Störungen unserer Tage lagen von seinem Verständnis ab, und den Anschauungen der Darwin und Haeckel gegenüber hat ihn wohl stets ein fröstelndes Gefühl ergriffen. Aber gerade deshalb — so paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag, wenn man solches sagt — ist sein Buch über Goethe ein geschichtliches Dokument, wie es nicht viele gibt. Es wird niemand mehr so über Goethe schreiben können. Nicht unsere Gegenwartskultur und keine folgende wird das möglich machen. Auf Goethes Generation mußte eine folgen, die noch so viel von Goethe hatte, daß sie unbeirrt um alles Folgende sein Bild festhalten konnte. Herman Grimm gehörte dieser Generation an. Was auch immer über Goethe noch gesagt wird, Grimms «Goethe» kann nicht überholt werden. So wie er wird keiner mehr über Goethe empfinden können; aber in diesen Empfindungen über Goethe lebte sich das Goethe-Zeitalter erst voll aus.
Die sich im «eigentlichen Sinne» Gelehrte nennen, wollten Herman Grimm nicht zu den Ihrigen zählen. Sie sprechen ihm die «strenge Methode» ab. Er durfte darüber lächeln. Er wollte nicht mit diesen «Gelehrten» verglichen sein und nicht zu ihnen gezählt werden. Er wußte zu gut, wie es um die «Methode» steht. Sie ist zumeist eine Krücke für alle diejenigen, die aus Mangel an persönlicher Kraft nicht auf eigenen Füßen gehen können und aus ihrer Eigenschaft heraus zu nichts kommen. Er wußte, daß ihm nur Methode absprechen kann, wer «selbst nichts hat, als nur Methode». Seine Überzeugung war: «Die Persönlichkeit des Einzelnen innerhalb seines beschränkten Kreises wird immer das Wertvolle bleiben.»