Collected Essays on Philosophy, Science, Aesthetics and Psychology 1884–1901
GA 30
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27. The Beautiful and Art
A book that brings back fond memories lies before me. Robert Vischer, the son of the famous aesthete Friedrich Theodor Vischer, has begun publishing his father's works. He calls the book "Beauty and Art", which he has compiled with great effort and care from the papers left behind by the deceased and from the transcripts of his students.
As I read the book, all the ideas I once had about the nature of the arts come back to me. The "once" means eighteen to twenty years ago. At that time, people my age were reading works on aesthetics by Vischer, Weiße, Carriere, Schasler, Lotze and Zimmermann to find out more about the nature of the arts.
These men came from the philosophy that dominated education in the first half of our century. Some relied on Hegel, others on Herbart.
And for these men, art was a philosophical matter.
Goethe, Schiller and Jean Paul also formed their own ideas about the nature of art. They took art itself as their starting point. They expressed what people are forced to think when they allow art to have an effect on them. Their concepts of art were born out of art.
Vischer, Carriere, Weiße, Zimmermann and Schasler did not originally start out from directly living nature. They thought about the totality of world phenomena. And these world phenomena also include the products of artistic creation. Just as they asked about the nature of light, warmth and animal development, they also asked about the nature of art. Their starting points were those of cognitive people, not those of artistically sensitive natures.
Of course, I do not mean that a man like Fr. Th. Vischer should be denied artistic feeling in the highest and purest sense of the word. On the contrary: his relationship to art is the most lively and personal imaginable. But when he speaks about art, he speaks as a philosopher.
For Vischer, the world was a realization of the divine spirit. A representation of the divine spirit in marble, in lines and colors, in words is therefore art for him. How does the artist realize the divine spirit in the sensual material? That was the fundamental question for Vischer. A high, mature philosophical training underlies all his explanations. The language he speaks is only understood by a few today. It could only be understood by those who had the philosophical thoughts of Schelling and Hegel as part of their education. Only they could be interested in the questions that Vischer asked, in the thoughts that he communicated.
Today, few people can read a book by Vischer in the way his contemporaries read it. For contemporary people, it discusses things that are none of their business.
For Vischer, art was ultimately an impersonal matter. It was one of the tasks assigned to people by higher powers. Vischer did not believe in a personal God. But he does believe in a God. In a basic spiritual being that lives itself out in nature, in history, in art. This fundamental being is above man. Our best have given up this belief. For them, the spirit is nothing independent. For them, the spirit is only there insofar as nature has the ability to produce spiritual things from itself. For them, the highest spirit is produced by man, who gives birth to it out of his nature. Only when man creates the spiritual is it there. Vischer believes that the spiritual is there in itself and that man must seize it. Today's people believe that only the natural exists without man, and that the spiritual is only created by man. Therefore, for Vischer, the artist is a person who is filled with the divine spirit and embodies it in his works. For today's artists, the artist is a person who feels the need to do violence to things and give them the imprint of his personality. They do not believe that they should embody a spirit, they want to create things that correspond to their ideas, their imagination.
Vischer says: the sculptor imprints a human form on the marble that does not resemble a real human being because he unconsciously carries within him the image, the idea of all humanity, the archetype of man and wants to embody it. This archetype is the divine in man. The moderns know nothing of such an archetype. They only know that a figure appears before their souls when they look at man, and that they want to realize this figure. They want to give birth to an artificial world alongside the natural one, which their temperament, their imagination gives them. This is a humanly willed world, not one that has sprung from the divine spirit.
Today's people no longer understand it when one speaks of art as a realization of the divine, they can only understand that man has the need to shape things according to his temperament, according to his inspiration.
Modernists want to talk about art in human terms; they no longer want to go into the religious trait that underlies Vischer's explanations.
Das Schöne und die Kunst
Ein Buch, das schöne Erinnerungen wachruft, liegt vor mir. Robert Vischer, der Sohn des berühmten Ästhetikers Friedrich Theodor Vischer, hat mit der Veröffentlichung der Werke seines Vaters begonnen. «Das Schöne und die Kunst» nennt er das Buch, das er mit großer Mühe und Sorgfalt aus hinterlassenen Papieren des Verstorbenen und aus den Nachschriften der Schüler zusammengestellt hat.
Während ich das Buch lese, tauchen in mir wieder alle die Vorstellungen auf, die ich mir einst über das Wesen der Künste gemacht habe. Das «einst» bedeutet die Zeit vor achtzehn bis zwanzig Jahren. Leute meines Alters haben sich damals aus den Werken über Ästhetik von Vischer, Weiße, Carriere, Schasler, Lotze und Zimmermann Aufklärung über die Natur der Künste geholt.
Diese Männer kamen von der Philosophie her, welche die Bildung der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts beherrscht hat. Auf Hegel stützten sich die einen, auf Herbart die anderen.
Und die Kunst war diesen Männern eine philosophische Angelegenheit.
Goethe, Schiller, Jean Paul haben sich in ihrer Art auch über das Wesen der Kunst Vorstellungen gebildet. Sie gingen dabei von der Kunst selbst aus. Was der Mensch gezwungen ist zu denken, wenn er die Kunst auf sich wirken läßt, sprachen sie aus. Aus der Kunst heraus waren ihre Begriffe über Kunst geboren.
Vischer, Carriere, Weiße, Zimmermann, Schasler gingen ursprünglich nicht von der unmittelbar lebendigen Natur aus. Sie dachten über die Gesamtheit der Welterscheinungen nach. Und zu diesen Welterscheinungen gehören auch die Erzeugnisse des künstlerischen Schaffens. Wie sie nach dem Wesen des Lichtes, der Wärme, der tierischen Entwickelung fragten, so fragten sie auch nach dem Wesen der Kunst. Ihre Ausgangspunkte waren die von Erkenntnismenschen, nicht die künstlerisch empfindender Naturen.
Ich meine natürlich nicht, daß einem Manne wie Fr. Th. Vischer das künstlerische Empfinden im höchsten und reinsten Sinne des Wortes abzusprechen ist. Im Gegenteil: sein Verhältnis zur Kunst ist das denkbar lebendigste und persönlichste. Aber wenn er über die Kunst spricht, so spricht er als Philosoph.
Eine Verwirklichung des göttlichen Geistes war für Vischer die Welt. Eine Darstellung des göttlichen Geistes in dem Marmor, in Linien und Farben, in Worten ist ihm deswegen die Kunst. Wie verwirklicht der Künstler den göttlichen Geist im sinnlichen Stoffe? Das war für Vischer die Grundfrage. Eine hohe, eine reife philosophische Schulung liegt allen seinen Ausführungen zugrunde. Die Sprache, die er spricht, wird heute nurmehr von wenigen verstanden. Sie konnte nur von denjenigen verstanden werden, welche die philosophischen Gedanken Schellings und Hegels als Bestandteil ihrer Bildung in sich hatten. Nur diese konnten Interesse haben für die Fragen, welche Vischer stellte, für die Gedanken, die er mitteilte.
Heute können nur wenige ein Buch von Vischer so lesen, wie es seine Zeitgenossen lasen. Für die Menschen der Gegenwart werden darinnen Dinge besprochen, die sie nichts angehen.
Für Vischer war die Kunst letzten Endes doch eine unpersönliche Angelegenheit. Sie gehörte zu den Aufgaben, welche dem Menschen von höheren Mächten gestellt werden. Zwar glaubt Vischer nicht an einen persönlichen Gott. Aber er glaubt doch an einen Gott. An ein geistiges Grundwesen, das sich in der Natur, in der Geschichte, in der Kunst auslebt. Dieses Grundwesen steht über dem Menschen. Unsere Besten haben diesen Glauben aufgegeben. Ihnen ist der Geist nichts Selbständiges. Ihnen ist der Geist nur da, insofern die Natur die Fähigkeit hat, Geistiges aus sich hervorzubringen. Der höchste Geist wird für sie durch den Menschen hervorgebracht, der ihn aus seiner Natur gebiert. Nur wenn der Mensch das Geistige schafft, ist es da. Vischer glaubt, das Geistige sei an sich da, und der Mensch müsse es ergreifen. Die Heutigen glauben: nur das Natürliche ist ohne den Menschen da, und das Geistige wird durch den Menschen erst erzeugt. Deshalb ist für Vischer der Künstler ein Mensch, der von dem göttlichen Geiste erfüllt ist und ihn in seinen Werken verkörpert. Für die Heutigen ist der Künstler ein Mensch, der das Bedürfnis hat, den Dingen Gewalt anzutun und ihnen das Gepräge seiner Persönlichkeit zu geben. Sie glauben nicht, daß sie einen Geist verkörpern sollen, sie wollen Dinge schaffen, wie sie ihren VorstelJungen, ihrer Phantasie entsprechen.
Vischer sagt: der Bildhauer prägt dem Marmor eine menschliche Gestalt ein, die keinem wirklich vorhandenen Menschen gleicht, weil er unbewußt in sich das Bild, die Idee der ganzen Menschheit, das Urbild des Menschen trägt und dieses verkörpern will. Dieses Urbild ist das Göttliche im Menschen. Die Modernen wissen nichts von einem solchen Urbilde. Sie wissen nur, daß ihnen eine Gestalt vor die Seele tritt, wenn sie den Menschen betrachten, und daß sie diese Gestalt verwirklichen wollen. Sie wollen neben der natürlichen Welt eine künstliche gebären, die ihnen ihr Temperament, ihre Phantasie eingibt. Eine menschlich gewollte Welt ist das, keine aus dem göttlichen Geist entsprungene.
Die Heutigen verstehen es nicht mehr, wenn man von der Kunst wie von einer Verwirklichung des Göttlichen spricht, sie können nur begreifen, daß der Mensch das Bedürfnis hat, Dinge nach seinem Temperament, nach seiner Eingebung zu gestalten.
Menschlich wollen die Modernen über die Kunst sprechen; auf den religiösen Zug, der Vischers Ausführungen zugrunde liegt, wollen sie nicht mehr eingehen.