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The Rudolf Steiner Archive

a project of Steiner Online Library, a public charity

Collected Essays on Drama 1889–1900
GA 29

Automated Translation

Magazin für Literatur 1898, Volume 67, 10

80. “Die Ahnfrau”

Trauerspiel in five acts by Franz Grillparzer
Performance at the Schiller Theater, Berlin

I have never been able to join in the unconditional Grillparzer rapture. I have often asked myself why the characters in his dramas leave me cold, even though they are characterized with such a high degree of poetic power. In Goethe's Iphigenia, Tasso and Gretchen I have the feeling that the deepest elements of human souls are revealed, that I am looking into the hidden depths of human nature. In Grillparzer's Sappho, Medea, Phaon, Melitta, Ottokar, the actual soul remains lifeless in itself, and its qualities appear to me like garments put on the invisible soul. That there is such passion, such pain, such dignity and renunciation as I encounter in Sappho is clear; I do not see these qualities oozing out of Sappho's soul. Only once did Grillparzer succeed in showing the true nature of a soul with all its contradictions: in Rachel in the "Jewess of Toledo". In this figure, I do not see a sum, an aggregate of human qualities, as in Sappho; I see a real soul.

Recently, I felt all this again when I attended the performance of Grillparzer's first work, "Ahnfrau", at the Schiller Theater. The management of this theater has earned a merit through this performance. The drama is particularly important for the knowledge of Grillparzer, and for a long time it could not be seen in Berlin.

A rigid fate, bending all human strength and goodness under a blind, wisdom-less necessity, is the driving force behind the events of this drama. The members of the Borotin household could be heroes or saints; their work cannot be beneficial, for the ancestress has transgressed and her sin continues to affect her entire family. I do not believe that Grillparzer was dishonest when he made blind fate the driving force behind his work of art. He did not want to experiment as Schiller did with his "Bride of Messina". He was a weak, will-less nature. He did not have the strength to say to himself: be your own master. He felt under the pressure of circumstances over which he had no power. He does not boldly take the helm of life and sail recklessly forward; he lets himself be carried by the waves wherever they take him. Such a feeling of dependence can be embodied with poetic truth by the idea of fate. This idea no longer appears in his later works. But there was no change in his basic feelings. He has merely subordinated himself to the general modern consciousness, which has nothing to do with the idea of destiny. The more modern conception of the world did not spring from within him as his own; he let it wash over him. A great poet dwelt in a weak-willed personality. This seems to me to characterize the Grillparzer phenomenon.

«DIE AHNFRAU»

Trauerspiel in fünf Akten von Franz Grillparzer
Aufführung im Schiller-Theater, Berlin

In die bedingungslose Grillparzer-Schwärmerei habe ich nie einstimmen können. Ich habe mir oft die Frage vorgelegt, warum mich die Figuren seiner Dramen kalt lassen, trotzdem sie mit einem so hohen Grade von dichterischer Kraft charakterisiert sind. Bei Goethes Iphigenie, Tasso, Gretchen habe ich die Empfindung, daß sich die tiefsten Elemente von Menschenseelen enthüllen, daß ich in verborgene Tiefen der menschlichen Natur blicke. Bei Grillparzers Sappho, Medea, Phaon, Melitta, Ottokar bleibt mir das eigentlich Seelische in sich leblos, und seine Eigenschaften erscheinen mir wie Kleidungsstücke, die der unsichtbar bleibenden Seele angezogen sind. Daß es solche Leidenschaft, solchen Schmerz, solche Würde und Entsagung gibt, wie sie mir an der Sappho entgegentreten, ist klar; das Herausquillen dieser Eigenschaften aus Sapphos Seele sehe ich nicht. Nur einmal ist es Grillparzer gelungen, zu zeigen, wie eine Seele mit all ihren Widersprüchen in ihrer wahren Natur beschaffen ist: an der Rahel in der «Jüdin von Toledo». In dieser Gestalt sehe ich nicht wie in der Sappho eine Summe, ein Aggregat menschlicher Eigenschaften zusammengefügt; ich sche eine wirkliche Seele.

Neuerdings empfand ich alles das wieder, als ich der Aufführung des Erstlingswerkes Grillparzers, der «Ahnfrau», im SchillerTheater beiwohnte. Durch diese Aufführung hat sich die Leitung des genannten Theaters ein Verdienst erworben. Das Drama ist für die Erkenntnis Grillparzers ganz besonders wichtig, und man hat es lange Zeit in Berlin nicht sehen können.

Ein starres, alle menschliche Kraft und Güte unter eine blinde, weisheitslose Notwendigkeit beugendes Schicksal ist die treibende Kraft der Vorgänge dieses Dramas. Die.Glieder des Hauses der Borotin könnten Helden oder Heilige sein; ihr Wirken kann nicht segensvoll sein, denn die Ahnfrau hat sich vergangen, und ihre Sünde wirkt nach in ihrem ganzen Geschlechte. Ich glaube nicht, daß Grillparzer unehrlich war, als er das blinde Fatum zum Treibenden seines Kunstwerkes machte. Nicht ein Experiment wollte er machen wie Schiller mit seiner «Braut von Messina». Er war eine schwache, willenlose Natur. Er hatte nicht die Kraft, zu sich zu sagen: sei dein eigener Herr. Er fühlt sich unter dem Drucke der Verhältnisse, über die er keine Macht hat. Nicht mutvoll setzt er sich ans Steuerruder des Lebens und segelt rücksichtslos vorwärts; er läßt sich von den Wogen tragen, wohin sie ihn bringen. Ein solches Anhängigkeitsgefühl kann mit dichterischer Wahrheit durch die Schicksalsidee verkörpert werden. In seinen späteren Werken tritt diese Idee nicht mehr auf. Aber es hat sich nicht ein Wandel in seinen Grundempfindungen vollzogen. Er hat sich nur dem allgemeinen modernen Bewußtsein untergeordnet, das mit der Schicksalsidee nichts anfangen kann. Die modernere Weltauffassung ist nicht als seine eigene aus seinem Innern entsprungen; er hat sie über sich ergehen lassen. Ein großer Dichter wohnte in einer willensschwachen Persönlichkeit. Damit scheint mir das Phänomen Grillparzer charakterisiert.