Collected Essays on Drama 1889–1900
GA 29
Automated Translation
Nationale Blätter 1890, Volume 2, 8
44. Heat Lightning of a New Era
At the performance of Gunnar Heiberg's “King Midas”
at the Deutsches Volkstheater, Vienna
What we did not dare to hope for after the experiences we had with the Deutsches Volkstheater in the first six months of its existence has now come true. We owe this institute a theatrical event the likes of which we have not seen in Vienna for a long time. On April 22, "King Midas" by Gunnar Heiberg was performed for the first time. We don't know what influence we have to thank for this, but it would be interesting to find out. For in view of the boundless lack of understanding with which the Viennese critics have received this "play", in view of their almost touching ignorance as to what is actually at stake here, we cannot but confess that we long to know who among the leading factors of the German people was able to recognize that for all Heiberg's dramatic ineptitude, for all the imperfection in the drawing of the characters, the weather light of a completely new age can already be felt in the work. The majority of our educated people seem to have just enough intellectual power to understand Ibsen, the last offshoot of a culture in decline. But this power is no longer sufficient to follow the man who makes the first - albeit still somewhat feeble - attempt to give artistic expression to a new moral world order. What is the message that Ibsen proclaims to the world? For the most part, none other than that of the contradiction between our reality and moral ideas, the impossibility of organizing life according to them. But what he regards as such "moral ideas" are those of an old, worn-out culture, they are the "old iron of morality" and are therefore often outcast from life by necessity. Only the immature youth and those older people who have never understood that in our classical period the moral content of life of an outdated time has found a residue-free artistic expression that cannot be surpassed, only these two groups of educated people could fall prey to that unholy cult of Ibsen, which is nothing but the result of the most blatant lack of education. Ibsen recognized that there is a terrible disproportion between real life and moral values, but he lacked the insight that the fermenting society of our day can no longer be measured by the ethical standards of the past, but is facing a transformation of the entire moral world order. "Good and evil" in the traditional sense are outdated concepts that are in urgent need of "re-evaluation". The question now is: what do we have to adhere to in such a "re-evaluation"? There can only be one answer: life itself. And thus we have recognized that moral value judgments must be based on life and not, as Ibsen would have it, life must be based on moral value judgments. A moral principle becomes a disastrous force the moment it stands in the way of the flourishing development of life. This is the basic idea of Heiberg's play. A young widow, Mrs. Holm, has received from her husband on his deathbed the confession that he was never unfaithful to her, not in deed, not in thought. This thought has been the happiness of her life since her husband's death. All her happiness came from it. But that confession was a lie. No one knows it but the editor Rarmseth, to whom a woman who was once a maid in Holm's house confessed that Holm had once had sexual relations with her. The editor Rarmseth appears as a representative of virtue in the form of the truth, the unvarnished, purely factual truth. And he acquaints Mrs. Holm with the true state of affairs. This drives her mad and she is lost to life. Thus the "truth" has destroyed a life that could have owed its happiness to a "blissful error". If critics believe that Heiberg's drama is nothing more than a polemic against
Ibsen, this is only a small fraction of the truth. The play is the first act of a new era, the first blow to the often rotten edifice of morality. Viennese critics have once again shown that they are completely incapable of judging what is better without prejudice. For once, a large coin - albeit poorly minted - has been issued, and the critical small change of our journalists was not enough to redeem it. On this occasion we cannot fail to make special mention of the actress playing Mrs. Holm, Miss Sandrock. The way in which she takes on and portrays the role, quite apart from anything else, is a sight to behold. She captivates our interest anew with every nuance. Whoever has seen her in "King Midas" will hardly doubt that we have in her a rising star of the first magnitude. No less interesting is Mr. Mitterwurzer as Ramseth. It takes a special artistry to play the indomitable nature of this man with unity. One believes from moment to moment that it must break now, this unyieldingness that sees disaster after disaster emerge from the fanaticism of truth. But Ramseth remains "true" until he has driven the poor victim of his "truth" out of his mind. Mitterwurzer is particularly adept at making this inflexibility clear to us.
DAS WETTERLEUCHTEN EINER NEUEN ZEIT
Zur Aufführung von Gunnar Heibergs «König Midas»
im Deutschen Volkstheater, Wien
Was wir nach den Erfahrungen, die wir mit dem Deutschen Volkstheater im ersten Halbjahre seines Bestandes machen konnten, durchaus nicht zu hoffen wagten, es ist nun doch eingetreten. Wir verdanken diesem Institute ein Theaterereignis, wie wir es in Wien seit langem nicht erlebt haben. Am 22. April wurde zum ersten Male «König Midas» von Gunnar Heiberg aufgeführt. Welchem Einflusse wir das zu danken haben, ist uns unbekannt, aber es wäre immerhin interessant, es zu erfahren. Denn bei dem grenzenlosen Unverstand, mit dem die Wiener Kritik dieses «Schauspiel» aufgenommen hat, bei der geradezu rührenden ‚Ahnungslosigkeit derselben in betreff dessen, worauf es hier eigentlich ankommt, können wir nicht umhin zu gestehen, daß wir Verlangen tragen, zu wissen, wer von den maßgebenden Faktoren des deutschen Volkes imstande war zu erkennen, daß bei allem dramatischen Ungeschick Heibergs, bei aller Unvollkommenheit in der Zeichnung der Charaktere, doch in dem Werke bereits das Wetterleuchten einer ganz neuen Zeit zu verspüren ist. Die Mehrzahl unserer Gebildeten scheint mit ihrer geistigen Kraft gerade noch weit genug zu reichen, um Ibsen, den letzten Ausläufer einer im Untergehen begriffenen Kultur, zu verstehen. Um aber auch noch dem zu folgen, der den ersten — allerdings noch etwas schwachen — Versuch macht, einer neuen sittlichen Weltordnung den künstlerischen Ausdruck zu verleihen, dazu reicht diese Kraft nicht mehr aus. Welches ist die Botschaft, die Ibsen der Welt verkündet? Zumeist keine andere als die von dem Widerspruche unserer Wirklichkeit mit den sittlichen Ideen, der Unmöglichkeit, das Leben nach diesen einzurichten. Was er aber als solche «sittliche Ideen» ansieht, das sind die einer alten, ausgelebten Kultur, das ist «altes Eisen der Moral» und deshalb mit Notwendigkeit von dem Leben oft ausgestoßen. Nur die unreife Jugend und jene Älteren, die nie verstanden haben, daß in unserer klassischen Periode der sittliche Lebensinhalt einer abgelebten Zeit einen rückstandslosen künstlerischen Ausdruck gefunden hat, der nicht zu überbieten ist, nur diese beiden Gruppen der Gebildeten konnten jenem heillosen Ibsen-Kultus verfallen, der doch nichts ist als das Ergebnis krassester Unbildung. Ibsen hat zwar eingesehen, daß ein furchtbares Mißverhältnis besteht zwischen dem wirklichen Leben und den sittlichen Werten, aber die Erkenntnis fehlt ihm, daß die gärende Gesellschaft unserer Tage eben überhaupt nicht mehr mit dem ethischen Maßstabe der Vergangenheit gemessen werden kann, sondern vor einer Umgestaltung der ganzen sittlichen Weltordnung steht. «Gut und Bös» im hergebrachten Sinne sind eben abgebrauchte Begriffe, die einer «Umwertung» dringend bedürftig sind. Es fragt sich nun: an was haben wir uns bei einer solchen «Umwertung» zu halten? Da kann es nur eine Antwort geben: an das Leben selbst. Und damit haben wir erkannt, daß die moralischen Werturteile sich nach dem Leben und nicht, wie Ibsen will, das Leben sich nach den moralischen Werturteilen zu richten habe. Ein moralisches Prinzip wird in dem Augenblicke zu einer unheilvollen Macht, wo es der gedeihlichen Entwickelung des Lebens hindernd in den Weg tritt. Dies ist der Grundgedanke des Stückes von Heiberg. Eine junge Witwe, Frau Holm, hat von ihrem Manne auf dem Totenbette das Bekenntnis empfangen, daß er ihr nie untreu war, nicht in Taten, nicht in Gedanken. Dieser Gedanke bildet das Glück ihres Lebens seit dem Tode ihres Gatten. All ihre Seligkeit stammt davon. Aber jenes Bekenntnis war eine — Lüge. Niemand weiß es als der Redakteur Ramseth, dem ein Weib, das einst Dienstmädchen im Hause Holm war, das Geständnis gemacht hat, Holm habe sich einmal mit ihr vergangen. Der Redakteur Rarmseth tritt als Vertreter der Tugend in der Form der Wahrheit auf, der ungeschminkten, rein tatsächlichen Wahrheit. Und er macht die Frau Holm mit der wahren Sachlage vertraut. Darüber wird sie wahnsinnig und ist dem Leben verloren. So hat die «Wahrheit» ein Leben zerstört, das einem «beseligenden Irrtume» sein Glück hätte verdanken können. Wenn die Kritik glaubt, das Drama Heibergs sei weiter nichts als eine Streitschrift gegen
Ibsen, so ist das nur ein geringer Bruchteil der Wahrheit. Das Stück ist die erste Tat einer neuen Zeit, der erste Schlag auf das vielfach morsch gewordene Gebäude der Moral. Die Wiener Kritik hat wieder einmal gezeigt, daß sie völlig unfähig ist, vorurteilslos das Bessere zu beurteilen. Es. ist einmal eine große Münze — wenn auch in schlechter Prägung — ausgegeben worden, und das kritische Kleingeld unserer Journalisten reichte nicht hin, sie einzulösen. Wir können bei dieser Gelegenheit doch nicht umbhin, auf die Darstellerin der Frau Holm, auf Fräulein Sandrock, besonders hinzuweisen. Die Art, wie sie die Rolle auffaßt und darstellt, ganz allein abgesehen von allem übrigen, ist eine Sehenswürdigkeit. Sie fesselt mit jeder Nuance unser Interesse wieder aufs neue. Wer sie im «König Midas» gesehen hat, wird kaum bezweifeln, daß wir in ihr einen aufgehenden Stern erster Größe zu sehen haben. Nicht minder interessant ist Herr Mitterwurzer als Ramseth. Es gehört eine besondere Kunstvollendung dazu, die unbeugsame Natur dieses Menschen einheitlich zu spielen. Man glaubt von Augenblick zu Augenblick, jetzt muß sie brechen, diese Unbeugsamkeit, die Unheil über Unheil aus dem Fanatismus der Wahrheit hervorgehen sieht. Aber Ramseth bleibt «wahr», bis er das arme Opfer seiner «Wahrheit» um den Verstand gebracht hat. Diese Starrheit uns klarzumachen, trifft Mitterwurzer in ganz besonderem Maße.